Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keine zweite Chance

Keine zweite Chance

Titel: Keine zweite Chance
Autoren: H Coben
Vom Netzwerk:
angewöhnt — früh aufstehen, auf Zehenspitzen zu Taras Wiege schleichen, sie ansehen. Babys machen nicht nur Freude. Das ist mir klar. Ich weiß, dass es Zeiten träger Langeweile gibt. Ich weiß, dass die Nervenenden durch ihr Geschrei in manchen Nächten wie mit einer Käsereibe bearbeitet werden. Ich will das
Leben mit einem Kleinkind keinesfalls idealisieren. Aber mir gefiel meine Morgenroutine. Taras winzige Gestalt anzusehen gab mir Kraft. Mehr noch, es versetzte mich in eine Art Verzückung. Manche Menschen geraten in Gotteshäusern in Verzückung. Ich — ja, ich weiß wie kitschig das klingt — ich geriet beim Anblick dieser Wiege in Verzückung.
    »Einen rosa Strampelanzug mit schwarzen Pinguinen«, sagte ich. »Monica hat ihn bei Baby Gap gekauft.«
    Er schrieb es auf. »Und Monica?«
    »Was ist mit ihr?«
    Er sah wieder auf seinen Block. »Was hatte sie an?«
    »Jeans«, sagte ich und dachte daran, wie sie über ihre Hüfte glitten, »und eine rote Bluse.«
    Regan schrieb weiter.
    Ich sagte: »Und es — ich meine, haben Sie irgendwelche Spuren?«
    »Wir ermitteln noch in alle Richtungen.«
    »Das habe ich nicht gefragt.«
    Regan sah mich nur an. Ich konnte diesem Blick nicht standhalten.
    Meine Tochter. Dort draußen. Allein. Seit zwölf Tagen. Ich dachte an ihre Augen, die Wärme darin, die nur Eltern sehen, und sagte etwas Albernes. »Sie lebt.«
    Regan legte den Kopf schief wie ein Welpe, der ein unbekanntes Geräusch hört.
    »Geben Sie nicht auf«, sagte ich.
    »Bestimmt nicht.« Er sah mich weiter mit seinem neugierigen Blick an.
    »Es ist bloß … haben Sie Kinder, Detective Regan?«
    »Zwei Mädchen«, sagte er.
    »Es klingt vielleicht albern, aber ich würde es spüren.« Genauso, wie ich bei Taras Geburt gespürt hatte, dass die Welt nie
wieder so sein würde wie vorher. »Ich würde es spüren«, wiederholte ich.
    Er antwortete nicht. Mir wurde klar, dass das, was ich sagte — besonders für einen Mann, der spöttisch auf Wunder, alles Übernatürliche oder Esoterische herabsah –, lächerlich war. Ich wusste, dass dieses Gespür einzig und allein auf meiner Sehnsucht basierte. Man will etwas mit so unbändiger Macht, dass das Gehirn sämtliche Wahrnehmungen diesem Ziel unterordnet. Aber ich hielt mich trotzdem daran fest. Ob richtig oder falsch, es war mein Rettungsanker.
    »Wir brauchen noch weitere Informationen von Ihnen«, sagte Regan. »Über Sie, Ihre Frau, Freunde, Finanzen …«
    »Später.« Dr. Heller ging wieder dazwischen. Sie trat zwischen uns, als müsste sie mich vor seinen Blicken schützen. Mit fester Stimme sagte sie: »Er braucht jetzt Ruhe.«
    »Nein, jetzt«, sagte ich zu ihr und versuchte, noch entschlossener zu klingen als sie. »Wir müssen meine Tochter finden.«

    Monica war im Familiengrab der Portmans auf dem Grundstück ihres Vaters beigesetzt worden. Die Beerdigung hatte ich natürlich verpasst. Ich weiß nicht genau, was ich dabei empfand, aber ich hatte, zumindest in jenen tristen Momenten, in denen ich mir selbst gegenüber ehrlich war, meiner Frau schon immer mit gespaltenen Gefühlen gegenübergestanden. Monica besaß die Schönheit der Privilegierten, die fast schon zu fein modellierten Wangenknochen, das glatte, seidenglänzende schwarze Haar und dieses ewig energisch vorgereckte Country-Club-Kinn, das sowohl störte als auch erregte. Unsere Ehe war von altem Schrot und Korn — eine Mussehe. Okay, das ist jetzt etwas übertrieben. Monica war schwanger gewesen. Ich unentschlossen. Die bevorstehende Niederkunft hatte mich in den Hafen der Ehe getrieben.
    Den Bericht über das Begräbnis erhielt ich von Carson Portman, Monicas Onkel und das einzige Mitglied ihrer Familie, zu dem wir regelmäßig Kontakt gehalten hatten. Monica hatte ihn von ganzem Herzen geliebt. Carson saß mit gefalteten Händen an meinem Krankenbett. Mit seiner dicken Brille, der fadenscheinigen Tweed-Jacke und dem ungebändigten Albert-Einstein-begegnet-Don-King-Haarschopf erinnerte er an einen netten alten College-Professor. Aber seine braunen Augen schimmerten, als er in traurigem Bariton erzählte, dass Edgar, Monicas Vater, dafür gesorgt hatte, dass das Begräbnis meiner Frau eine kleine geschmackvolle Angelegenheit war.
    Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Insbesondere das kleine erschien mir plausibel.
    In den nächsten Tagen besuchten mich diverse Leute im Krankenhaus. Meine Mutter — alle nannten sie Honey — kam jeden Morgen wie mit Düsenantrieb ins Zimmer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher