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Keine Frage des Geschmacks

Keine Frage des Geschmacks

Titel: Keine Frage des Geschmacks
Autoren: Carl Hanser Verlag
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davon zu überzeugen, dass die Finanzierung der neuen Büroeinrichtung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen lausig war und dringend eine weitere bezahlte Stelle eingerichtet werden musste. Immerhin ging es um das Schicksal der Frauen in einem der ärmsten Länder der Welt. Und die Konservativen hatten sich wahltechnisch Positionen zu eigen gemacht, gegen die sie früher so vehement polemisiert hatten. In ihren Reihen fanden sich inzwischen mehr Politikerinnen als bei den ehemaligen Linken.
     
    *
     
    Miriam legte sich den Mantel über die Schultern und trat in den Regen hinaus. Zu Fuß eilte sie bis zur U-Bahn-Station Westminster und bestieg einen der überfüllten Waggons der Circle-Line. Sie hatte Glück, an der nächsten Haltestelle wurde ein Sitzplatz frei. Jeanette musste auf jeden Fall gerettet werden. In Italien konnte das Wetter nur besser sein. Eine kleine Reise könnte vielleicht guttun.
    Liebend gerne hätte sie diese Geschichte selbst groß aufgemacht. Aber alle wussten von der Freundschaft der beidenFrauen. An diese Story wäre sie sicher anders herangegangen, als die Kollegen es tun würden. Die Person Jeanette McGyver war letztlich so langweilig wie die Doppelmoral der Politiker, an die man sich schon lange gewöhnt hatte. In Miriams Augen ging es in diesem Fall um die Macht der Bilder, die Abschaffung jeglicher Privatsphäre, Überwachung und Kontrolle, Skandalgeschichten, die einander jagten und am nächsten Tag samt ihrer Opfer schon wieder vergessen waren. Manche waren inszeniert, andere entstanden durch Leichtsinn oder Überheblichkeit. Was aber wäre, wenn jemand auf die Idee käme, abertausende Überwachungskameras anzuzapfen, mit denen die Innenstädte inzwischen überzogen waren, die aber dennoch zu keinem Rückgang der Verbrechensrate führten? In der britischen Hauptstadt lauerten sie an allen Ecken und waren darauf programmiert, jeden ins Visier zu nehmen, der eine auffällige Bewegung machte. Zuschauen statt vorbeugen. In dieser Sache war sie anderer Meinung als Jeanette, die lautstark schärfere Maßnahmen forderte und behauptete, es müsse sich schließlich niemand fürchten, der sich an die Regeln hielt.
    Dazu kamen noch die Kameras in Banken und vor Kaufhäusern, an Bushaltestellen, U-Bahn-Schächten, in Supermärkten, Parkhäusern. Schon lange protestierte niemand mehr dagegen. Und jeder, der ein Mobiltelefon besaß, hatte damit auch einen Fotoapparat zur Hand oder eine Videokamera – in Echtzeit ließen sich Bilder manipulieren und irreversibel ins Netz stellen. Eine Denunzianten- und Spannergesellschaft. Beiläufig suchten Miriams Augen den U-Bahn-Waggon nach einer Kamera ab. »Big Brother« war das erfolgreichste internationale Fernsehformat geworden. Zur Sicherheit des Bürgers wurden, wie es hieß, Millionen in die Spionagegesellschaft gepumpt, und die Freiheit wurde Schritt um Schritt abgeschafft. Ein Paradox. Das Internet galt als Instrument genau dieser Freiheit, mit dem man sich angeblichalle Informationen beschaffen konnte, welche die klassischen Nachrichtenorgane zunehmend unterschlugen. Wer aber dachte daran, dass jeder einzelne Schritt des Users, seine Interessengebiete und seine Bewegungen im Netz so wenig ein Geheimnis blieben wie seine Kreditkartennummer? Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis auch noch Schuhgröße und Blutgruppe folgten. Inzwischen lief die Entwicklung einer DNA-Karte auf Hochtouren – ein Mensch auf einer Scheckkarte.
    Miriam tippte ein paar Stichworte in ihr iPhone. Es war absurd, was vorging. Sie erlebte eine schrecklich gelangweilte Gesellschaft, in der Hektik und Stress seit Jahren unverhältnismäßig zunahmen, ohne dass die Bevölkerung davon wirtschaftlich profitierte. Ihre Freundin Jeanette McGyver gehörte auch zu denen, die unablässig von Steuersenkungen quasselten, dabei wurden in Wirklichkeit ständig neue Gebühren und Abgaben eingeführt. Gesundheitswesen und Bildung kosteten immer mehr, doch der Standard sank kontinuierlich und weitere Einschnitte waren angeblich unvermeidbar. Und wie die Idioten rannte man hinter dem Geld her und verschwendete die Zeit mit Smartphone und Internet. Befristete Arbeitsplätze waren die Regel geworden, doch keine Bank gab jungen Leuten ohne festen Job einen Kredit zur Existenzgründung, und niemand vermietete ihnen eine Wohnung, in der sich eine Familie gründen ließ. Die Antwort auf Zukunftsängste war der Appell, den Institutionen zu vertrauen, die alles richten würden. Als könnte man Krisen
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