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Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One

Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One

Titel: Kein Sterbenswort - Kein Sterbenswort - Tell No One
Autoren: Harlan Coben
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kannte, hatte es nicht draußen gehalten. Sie hatten die Hütte umzingelt, sich hineingekämpft, waren durch Löcher und Fenster gekrochen, hatten die Bausubstanz verschlungen, so dass sie zu einem Teil der Landschaft geworden war.
    »Du bist wieder da«, sagte eine Stimme, und ich erschrak.
    Eine Männerstimme.
    Meine Reaktion war rein instinktiv. Ich sprang zur Seite, ließ mich zu Boden fallen, rollte mich ab, zog die Glock und zielte. Der Mann hob lediglich die Hände. Ich sah ihn an und hielt weiter die Glock auf ihn gerichtet. Mit so einer Gestalt hatte ich nicht gerechnet. Der dichte Bart sah aus wie ein von Krähen geplündertes Rotkehlchennest. Er hatte lange, verfilzte Haare und trug einen zerfledderten Tarnanzug. Einen Augenblick lang dachte ich, ich wäre wieder in der Stadt und stünde einem obdachlosen Bettler gegenüber. Aber Körperhaltung und Verhalten passten nicht dazu. Der Mann stand ruhig und aufrecht da. Er sah mir direkt in die Augen.
    »Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte ich.
    »Es ist lange her, David.«
    »Ich kenne Sie nicht.«
    »Nein, eigentlich nicht. Aber ich kenne dich.« Er zeigte mit der Hand auf die Koje hinter mir. »Ich habe dir und deiner Schwester beim Spielen zugeguckt.«
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
    Er lächelte. Seine Zähne, die alle noch vorhanden waren, glänzten weiß vor seinem Bart. »Ich bin der wilde Mann.«
    In der Ferne hörte ich eine Schar Gänse schnattern, die auf dem See zur Landung ansetzte. »Was wollen Sie?«, fragte ich.
    »Gar nichts«, sagte er immer noch lächelnd. »Darf ich die Hände runternehmen?«
    Ich nickte. Er ließ die Hände fallen. Ich senkte die Waffe, behielt sie jedoch in der Hand. Ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte, und fragte: »Wie lange verstecken Sie sich hier schon?«
    »Mit ein paar Unterbrechungen seit …«, er schien kurz nachzurechnen, wobei er die Finger benutzte, »… dreißig Jahren.« Er grinste, als er meinen entgeisterten Gesichtsausdruck sah. »Ja, ich kenne dich, seit du so groß warst.« Er hielt die Hand in Kniehöhe. »Ich habe gesehen, wie du aufgewachsen bist und …« Er schwieg. »Seit du zum letzten Mal hier warst, ist viel Zeit vergangen, David.«
    »Wer sind Sie?«
    »Ich heiße Jeremiah Renway«, antwortete er.
    Der Name sagte mir nichts.
    »Ich bin auf der Flucht vor der Polizei.«
    »Und warum zeigen Sie sich jetzt?«
    Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich weil ich mich freue, dich zu sehen.«
    »Woher wollen Sie wissen, dass ich Sie nicht bei der Polizei verpfeife?«
    »Ich glaube, du bist mir was schuldig.«
    »Wieso?«
    »Ich habe dir das Leben gerettet.«
    Die Erde schien unter mir nachzugeben.
    »Was glaubst du denn, wer dich aus dem Wasser gezogen hat?«, wollte er wissen.
    Ich war völlig perplex.
    »Wer hat dich ins Haus gebracht? Und wer hat den Krankenwagen gerufen?«
    Ich öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus.
    »Und …«, das Lächeln wurde breiter, »… wer hat denn wohl die Leichen so weit ausgegraben, dass sie jemand findet?«
    Es dauerte eine Weile, bis ich wieder ein Wort herausbekam. »Warum?«, stieß ich dann hervor.
    »Kann ich auch nicht genau sagen«, antwortete er. »Weißt du, vor langer Zeit habe ich etwas Böses getan. Ich glaube, das war meine Chance zur Wiedergutmachung oder so was.«
    »Was wollen Sie damit sagen? Was haben Sie gesehen?«
    »Alles«, antwortete Renway. »Ich habe gesehen, wie sie deine Frau geschnappt haben. Ich habe gesehen, wie sie dir den Baseballschläger über den Kopf gehauen haben. Ich habe gesehen, wie sie deiner Frau versprochen haben, dich rauszuholen, wenn sie ihnen verrät, wo sie etwas Bestimmtes finden. Ich habe gesehen, wie deine Frau ihnen den Schlüssel gegeben hat. Ich habe gesehen, wie sie gelacht und deine Frau ins Auto gezerrt haben, während du weiter im Wasser lagst.«
    Ich schluckte. »Haben Sie gesehen, wie sie erschossen wurden?«
    Wieder lächelte Renway. »Genug geplaudert, Junge. Sie wartet auf dich.«
    »Ich versteh Sie nicht.«
    »Sie wartet auf dich«, wiederholte er und wandte sich ab. »Am Baum.« Ohne Vorwarnung sprintete er in den Wald, flitzte wie ein Reh durchs Unterholz. Ich blieb stehen und sah ihn im Dickicht verschwinden.
    Am Baum.
    Ich rannte los. Zweige peitschten mir ins Gesicht. Es war mir egal. Meine Beine sehnten sich nach einer Rast. Ich schenkte ihnen keine Beachtung. Meine Lunge protestierte. Ich zwang sie zum Weiteratmen. An dem etwas phallischen Felsen bog ich rechts ab und
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