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Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen
Autoren: Michael Harvey
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großen Cheeseburgers lieber drei Mini-Burger aß. Ich wusste ja auch, dass sie im letzten Jahr ihres Grundstudiums fünf Kurse am frühen Morgen belegt hatte. Ebenso wie ich wusste, dass sie von all ihren Jeans am liebsten die zerrissene Levis trug, mit einem alten karierten Hemd darüber; dass sie Ivory-Seife benutzte und ihr Haar freitags im Nacken zusammenband und gerne mal im Regen draußen saß unter ihrem Schirm und zuschaute, wie die Tropfen vom Himmel kamen. Über Sarah Gold wusste ich mehr als über mich selbst. Das muss zwar noch nichts heißen, änderte aber nichts an der Tatsache.
    »Ich habe geraten«, sagte ich.
    Sarah nahm einen Schluck Bier. Auf ihrer Oberlippe blieb ein Schaumrand zurück. Ich tippte auf meine Lippe.
    »Das Zeichen eines guten Biers.« Sie wischte mit dem Handrücken über ihren Mund. »In den ersten Jahren habe ich dich hier nur selten gesehen.«
    »Ich war viel unterwegs.«
    »Auf Reisen?«
    »Ich habe ein Jahr im Ausland studiert.« In meinen vier Jahren an der Northwestern war ich nie weiter als bis zur Bibliothek gekommen, aber das würde ich Sarah Gold nicht verraten. Abgesehen davon gefiel es mir, einen auf geheimnisvoll zu machen.
    »Echt wahr? Wo denn?«
    »Türkei.« Türkei? Wie war ich jetzt darauf gekommen? Ich versuchte mich an das zu erinnern, was ich über die Stadt wusste. Bis mir einfiel, dass es ein Land war. Und dann konnte ich nur noch an türkischen Honig denken. Scheiße. Ich holte tief Luft.
    »Wie aufregend«, sagte Sarah. »Ich war ein paar Monate lang in Istanbul.«
    Ich rang mir ein Lächeln ab und leerte mein Glas. Ihrs war noch so gut wie voll. Ich winkte die Kellnerin zu uns und bestellte die nächste Runde. Sarah zeigte auf ihr Glas und sagte, sie sei noch nicht so weit. Die Kellnerin verschwand.
    »Wie fandst du es heute?«, fragte Sarah.
    Ich wusste nicht, wie ich es gefunden hatte. Aber Sarah wartete auch nicht auf eine Antwort.
    »Ein bisschen seltsam war es ja schon«, fuhr sie fort. »Uns einfach so auf die Akten loszulassen. Aber so ist Zombrowski. Bei der heißt es ganz oder gar nicht. Zumindest hat man mir das erzählt.«
    Wir saßen in einer Nische an der Fensterseite, mit Blick auf die Sherman Avenue. Ich hatte die Theke im Rücken und hörte von dort das Gemurmel anderer Gäste. Dann knarzte eine Fußbodendiele, und jemand stand an meiner Seite. Sarahs Blick weitete sich, bevor sie ein verhaltenes Lächeln wagte.
    »Hey, Kyle.«
    Kyle Brennan war zwei Semester unter uns und der erste Cornerback der Football-Mannschaft der Northwestern. Ich hatte ihn zwei Jahre lang gehasst. Das waren die beiden Jahre gewesen, in denen er mit Sarah Gold zusammen war. Wenige Monate vor Abschluss ihres Bachelors hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Ich hielt das für eine großartige Entscheidung. Brennan war angeblich anderer Meinung.
    »Hey, Sarah.«
    Brennan war schätzungsweise eins achtzig groß, hatte dunkle Augen, kurzes schwarzes Haar und Lippen, die ich nur als violett beschreiben konnte. Er setzte sich zu Sarah, rutschte an sie heran, fast schon auf sie drauf. Sarah rückte von ihm weg und deutete auf mich.
    »Kyle, kennst du Ian Joyce?«
    Ohne mich anzusehen, schüttelte Brennan den Kopf und trank einen Schluck aus dem großen Plastikbecher, den er dabeihatte. In einer Woche begann das Sommertraining, und ein Teil der Football-Typen trank derzeit auf Vorrat. Brennan schien es damit besonders eilig zu haben.
    »Wir haben den Bachelor zusammen gemacht«, sagte Sarah. »Jetzt sind wir im selben Graduate-Seminar.«
    »Ein paar von uns wollen rüber in die Stadt«, sagte Brennan. »Zum Straßenfest in Wrigleyville. Warum kommst du nicht mit?«
    »Nein danke, Kyle.«
    »Wir können zusammen abhängen.«
    »Nein danke.«
    »Nur wir zwei.«
    Ich beugte mich vor. »Sie hat ›nein danke‹ gesagt.«
    Brennan knallte seinen Becher auf den Tisch und verspritzte eine violette Flüssigkeit. Daher also die Lippenfarbe.
    »Hat dich jemand was gefragt?«
    Das Gemurmel hinter mir versickerte. Ich spürte, wie sich die Atmosphäre im Raum auflud und versuchte, die Situation zu entspannen.
    »Ganz ruhig, Kumpel. Du willst doch nicht rausgeschmissen werden, oder?«
    »Ich bin nicht dein Kumpel. Und der Rest ist mir scheißegal.«
    Ich umklammerte die Tischkante und merkte, dass mir die Hitze bis zum Haaransatz stieg.
    »Kyle.« Sarah packte den Arm ihres Exfreunds. »Sieh mich an.«
    Er sah sie an.
    »Du bist betrunken. Und du bringst mich in Verlegenheit. Geh jetzt,
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