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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal
Autoren: Libba Bray
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zu meinen Verwandten fahren und für sie arbeiten. Alles wird zu Ende sein und wir werden einander nie wiedersehen.«
    Für einen Moment sieht sie mich an, anscheinend in der Hoffnung, in meinem Gesicht Trost zu erblicken. »Sag mir, dass ich unrecht habe; sag mir, dass du noch einen Trumpf im Ärmel hast, Gemma« ,flehen ihre Augen. Aber sie hat nicht unrecht und ich bin nicht schnell oder abgebrüht genug, um zu lügen. Nicht heute Abend.
    »Lass sie nicht gewinnen, Ann. Komm zurück ins Zelt.«
    Sie sieht mich nicht an, aber ich kann ihren Abscheu spüren. »Du verstehst nicht, oder? Sie haben schon gewonnen.« Und damit tritt sie zurück ins Dunkel.
    Ich könnte zu Felicity und den anderen zurückkehren, aber ich habe keine Lust dazu. Eine tiefe Niedergeschlagenheit hat mich befallen und ich möchte allein sein. Ich suche mir einen geeigneten Lesesessel im Marmorsaal, weit weg vom Geschwätz der anderen. Ich habe erst wenige Seiten gelesen, als ich bemerke, dass ich nur eine Armlänge von der berüchtigten Säule entfernt bin. Sie ist eines der vielen seltsamen Dinge in Spence. Dazu gehört der bronzene Kronleuchter mit den kunstvoll geschmiedeten schlangenförmigen Armen in der Eingangshalle. Dann die glupschenden Wasserspeier auf dem Dach. Die lächerlichen, mit Straußenfedern gemusterten Wandtapeten. Das über dem obersten Treppenabsatz hängende Porträt der Gründerin von Spence, Eugenia Spence, deren stechenden blauen Augen nichts entgeht. Zu diesen Seltsamkeiten würde ich auch die riesigen offenen Kamine zählen, die eher wie die aufgerissenen Mäuler schrecklicher wilder Tiere denn wie gemütliche Wärmequellen erscheinen. Und dann ist da diese Säule in der Mitte des Marmorsaals, die mit Figuren von Elfen, Satyrn, Nymphen und allerlei Kobolden geschmückt ist.
    Sie ist auch lebendig.
    Oder war es einmal. Diese »gemeißelten« Figuren sind Wesen des Magischen Reichs, die für ewige Zeit hier gefangen sind. Einmal haben wir sie mit der Magie zum Leben erweckt. Es war ein dummer Streich und wir wurden dabei fast getötet.
    Ich betrachte die winzigen, im Stein gefangenen Körper genau. Die Münder der Wesen sind in einem wütenden Schrei geöffnet. Ihre Augen starren durch mich hindurch. Ich möchte nicht hier sein, wenn sie freikommen sollten. Obwohl ich mich davor fürchte, drängt es mich, die Säule zu berühren. Meine Finger landen auf den fauchenden Lippen eines Satyrs und mein Herzschlag beschleunigt sich, denn ich fühle eine merkwürdige Mischung aus Faszination und Abstoßung. Ich schließe die Augen und erlaube meinen Fingern, die rauen Vertiefungen und Erhebungen seines drohenden Mundes zu erforschen, die Zunge, die Lippen, die Zähne.
    Meine Finger rutschen auf dem Stein aus; eine scharfe Kante schneidet in meine Haut. Ich schreie vor Schmerz auf. Blut sammelt sich in der schmalen Kerbe. Ich habe kein Taschentuch, also stecke ich meinen Finger in den Mund und spüre den bitteren Geschmack. Die Säule ist still, aber ich kann ihre bedrohliche Ausstrahlung im Pochen meiner Wunde fühlen. Ich rücke meinen Sessel näher an Brigids beruhigendes Geplauder heran, weit weg von der gefährlichen Schönheit der Marmorsäule.
    *
    Um zehn Uhr, als uns vor Müdigkeit schon die Augen zufallen, steigen wir Mädchen die Treppen zu unseren Zimmern hinauf und haben nur noch den Wunsch, unter die warmen Decken zu kriechen, zu schlafen und zu vergessen.
    Felicity drängt sich zu mir vor. »Halb eins. Am üblichen Ort«, flüstert sie. Sie wartet mein zustimmendes Nicken nicht ab. Sie hat den Befehl gegeben und das genügt.
    Die Lampen in meinem Zimmer brennen noch gedämpft. Ann schläft, aber sie hat die Nähschere liegen lassen, wo ich sie sehen kann. Die Schneiden sind geschlossen, aber ich weiß, sie haben ihr Werk getan und die Innenseiten ihrer Arme gezeichnet. Ich weiß, ihre Unterarme sind mit frischen Striemen bedeckt, die sich bald in das Webmuster alter Narben einfügen werden, die Ann sich zugefügt hat. Würde es mir gelingen, den Weg ins Magische Reich wiederzufinden, einen Weg zur Magie, dann könnte ich Ann vielleicht helfen. Aber im Moment vermag ich ihr Schicksal nicht zu wenden. Ich kann nur gespannt sein, ob sie es aus eigener Kraft schafft.

4. Kapitel
    Als ich in die Spence-Akademie für junge Damen kam, wusste ich nichts von der Vergangenheit der Schule und deren Verbindung zu mir und meinem Leben. Ich war in Trauerkleidern gekommen, da meine Mutter erst wenige Monate zuvor gestorben war.
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