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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal
Autoren: Libba Bray
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ihr entschlossenes Kinn, die Taschenuhr in der Hand, so, wie wir sie kannten, als sie unsere geliebte Lehrerin war. Bevor wir wussten, dass sie Circe ist. Bevor ich sie getötet habe. »Ich … Ich war noch nicht bereit. Das ist alles.«
    Felicity sieht mich kalt an. »Du hast nichts getan, was du bedauern musst. Sie hat den Tod verdient.«
    »Lasst es uns noch einmal versuchen«, sagt Ann. Sie reicht uns ihre Hände und ich sehe die Schnitte, die sie sich heute Abend zugefügt hat.
    »Nur zu. Aller guten Dinge sind drei«, scherze ich, obwohl mir überhaupt nicht nach Scherzen zumute ist.
    Ich schließe die Augen und verlangsame meinen Atem, während ich noch einmal versuche, meine Gedanken auszuschalten und mich auf nichts anderes als das Tor aus Licht zu konzentrieren. Hitze sammelt sich in launischen Wellen in meinem Magen an. Es ist, als würde man wieder und wieder ein Streichholz anzünden, das nicht brennen will. Komm schon, komm schon. Für einen Moment flammt es auf, fängt wie gewohnt Feuer am Zündstoff meiner Wünsche. Ich sehe die sich sanft wiegenden Olivenbäume im Garten. Den lieblichen Fluss. Und ich sehe das Tor aus Licht. Ha! Oh ja! Wie habe ich es vermisst! Jetzt muss ich es nur festhalten …
    Das Bild verblasst und an seiner Stelle sehe ich das geisterhafte Gesicht Circes in dem kalten Wasser des Brunnens. Sie schlägt die Augen auf. »Gemma …«
    Mit einem unterdrückten Schrei reiße ich mich los und die Zauberkraft ist weg. Ich spüre, wie das Magische Reich zurückweicht, gleich einer Flut, die ich nicht an den Strand zurückholen kann. Sosehr ich auch ziehe, es gelingt mir nicht.
    Ann gibt als Erste auf. Sie ist an Enttäuschungen gewöhnt und erkennt rascher, wenn sie verloren hat. »Ich gehe ins Bett.«
    »Es tut mir leid«, flüstere ich, ohne die beiden anzusehen. Das Gewicht ihrer Niedergeschlagenheit liegt schwer auf meiner Brust, sodass ich kaum atmen kann. »Ich weiß nicht, was passiert ist.«
    Felicity schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie das möglich ist. Du hast die Magie an dich gebunden. Wir sollten uns ganz problemlos ihrer bedienen können.«
    Wir sollten, aber wir können es nicht. Ich kann es nicht. Und mit jedem vergeblichen Versuch schwindet meine Zuversicht. Was ist, wenn ich nie wieder ins Magische Reich zurückkomme?
    *
    Lange nachdem meine Freundinnen schlafen gegangen sind, sitze ich in meinem Bett, mit fest geschlossenen Augen, die Knie an meine Brust gepresst. Mit einem einzigen, inständig wiederholten Wort bitte ich das Tor aus Licht zu erscheinen. Bitte, bitte, bitte … Ich bitte, bis meine Stimme heiser vor Tränen und Verzweiflung ist, bis die frühe Morgendämmerung ihr gnadenloses Licht auf mich wirft, bis mir nichts anderes mehr zu sagen bleibt als das, was ich nicht über meine Lippen bringe – dass ich die Magie verloren habe und dass ich ohne sie nichts bin.

5. Kapitel
    Das Oldham-Sanatorium, eine halbe Bahnstunde von London entfernt, ist ein großer, weißer Gebäudekomplex, umgeben von einem weiten, grünen Rasen. Einige Stühle stehen draußen, sodass die Patienten die Sonne genießen können, wann immer sie wollen.
    Wie versprochen sind Tom und ich gekommen, um Vater zu besuchen. Es behagt mir nicht, ihn an diesem Ort zu sehen. Am liebsten erinnere ich mich an Vater in seinem Arbeitszimmer, wie er am Kaminfeuer sitzt, in einer Hand seine Pfeife, mit einem Zwinkern im Auge und einer fantastischen Geschichte im Ärmel. Aber ich vermute, selbst die Erinnerung an ihn hier im Sanatorium wird um einiges angenehmer sein als die an eine Opiumhöhle in Londons East End, wo ich meinen Vater gefunden habe. Vater war seiner Sucht so hoffnungslos verfallen, dass er sich sogar von seinem Ehering getrennt hat, nur um immer noch mehr Rauschgift zu bekommen.
    Nein, daran will ich nicht denken. Nicht heute.
    »Vergiss nicht, Gemma, du sollst fröhlich und unbeschwert sein«, ermahnt mich Tom – mein älterer, doch leider nicht weiserer Bruder –, als wir über die weite Rasenfläche schlendern, an ordentlich beschnittenen Hecken entlang, an denen kaum ein unbedachter Zweig oder ein vorwitziges Unkraut die sorgsame Symmetrie stört.
    Ich lächle eine vorbeikommende Krankenschwester strahlend an. »Ich denke, ich weiß auch ohne deinen guten Rat, wie ich mich zu verhalten habe, Thomas«, sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.
    »Da bin ich mir nicht so sicher.«
    Ehrlich, was hat man von Brüdern, außer dass sie einen mit schöner
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