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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren
Autoren: James G. Ballard
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das
kurzgeschnittene, blonde Haar und die braungebrannte Haut ließen ihn zehn Jahre
jünger erscheinen. Durch chronischen Appetitmangel und neue Arten von Malaria
war die trockene, lederartige Haut geschrumpft, was seine asketischen
Gesichtszüge noch betonte. Beim Rasieren betrachtete er sich kritisch, befühlte
mit den Fingern die immer schmaler werdenden Flächen und knetete die veränderte
Muskulatur; die Konturen seines Kopfes verwandelten sich langsam und enthüllten
eine Persönlichkeit, die in seinem bisherigen Erwachsenendasein latent geblieben
war. Trotz seines introspektiven Wesens war er jetzt entspannter und
gleichmütiger als je zuvor. Seine kühlen blauen Augen blickten ihm wachsam und
ironisch entgegen. Die etwas verklemmte Beschränkung auf seine eigene Welt mit
ihren privaten Ritualen und Regeln war einem gelösten Abseitsstehen gewichen,
und daß er sich von Riggs und seinen Männern distanzierte, war mehr eine Sache
der Bequemlichkeit als misanthropische Abwehr.
    Er nahm ein monogrammgeschmücktes
cremefarbenes Seidenhemd von dem Stoß, den der Bankier im Schrank
zurückgelassen hatte, und schlüpfte in eine gutgebügelte Sporthose mit Züricher
Markenzeichen. Dann verschloß er die Doppeltür – das Apartment war im Grunde
ein Glaskubus mit einer Ziegelummauerung – und ging die Treppe hinunter.
    Gerade als Colonel Riggs' Kutter, ein
umgebautes Landefahrzeug, neben seinem Katamaran festgemacht wurde, betrat er
die Mole. Riggs stand am Bug, gepflegt wie immer, einen Stiefel auf der Rampe,
und blickte über die gewundenen Rinnsale und hängenden Dschungelbäume wie ein
alterfahrener Afrikaforscher.
    »Guten Morgen, Robert«, begrüßte er
Kerans und sprang auf die schwankende Plattform über den vertäuten, leeren
Öltonnen. »Schön, daß Sie noch da sind. Ich hab da 'ne Arbeit, bei der Sie mir
helfen könnten. Können Sie sich heute von der Station freinehmen?«
    Kerans half ihm auf den betonierten
Balkon des siebenten Stockwerks hinauf.
    »Natürlich, ich habe mir sogar schon
freigenommen.«
    Im Prinzip war Riggs die oberste
Autorität für alle auf der Teststation, und Kerans hätte ihn um Erlaubnis
bitten müssen, aber zwischen den zwei Männern gab es keine Formalitäten. Seit
mehr als drei Jahren arbeiteten sie schon zusammen, während die Teststation und
ihre Militäreskorte sich langsam durch die europäischen Lagunen nordostwärts bewegte;
Riggs ließ Kerans und Bodkin ihre Arbeit nach eigener Fasson ausführen, er
hatte genug damit zu tun, die stets wechselnden Landvorsprünge und Hafenbuchten
kartographisch festzuhalten und ihre letzten Bewohner zu evakuieren. Bei dieser
Evakuierung brauchte er oft Kerans' Hilfe, denn die meisten Leute, die noch in
den versinkenden Städten vegetierten, waren entweder Psychopathen oder litten
an Unterernährung und Strahlungskrankheit.
    Kerans leitete nicht nur die
biologische Station, sondern war auch als Arzt für die Einheit verantwortlich.
Viele Leute, die sie an den verlassenen Ufern fanden, mußten ärztlich betreut
werden, ehe man sie mit Hubschraubern zu einem der großen Tanker und
Landefahrzeuge brachte, die Flüchtlinge nach Camp Byrd auf Grönland transportierten.
Verletzte Soldaten, die in einem verlassenen Sumpf von der Umwelt abgeschnitten
wurden, sterbende Einsiedler, die ihre eigene Identität nicht von der ihrer
Heimatstädte zu trennen vermochten, entmutigte Freibeuter, die zurückgeblieben
waren, um nach zurückgelassenen Gütern zu tauchen – sie alle holte Riggs
freundlich und doch bestimmt in Sicherheit, und Kerans stand stets bereit,
schmerzstillende oder beruhigende Mittel zu spritzen. Kerans fand Colonel Riggs
trotz seiner militärisch-forschen Haltung intelligent und sympathisch; daß er
auch Sinn für Humor besaß, zeigte er allerdings selten. Manchmal überlegte
Kerans, ob er seinem Boß von dem Spaß mit Bodkins Pelycosaurus erzählen
sollte, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Der bei dem Schwindel genannte
Sergeant, ein verschlossener gewissenhafter Schotte namens Macready, kletterte
auf den Drahtkäfig, der das Deck des Kutters umschloß, und kehrte sorgsam die
schweren Blätter und Schlinggewächse ab. Keiner der drei anderen machte auch
nur einen Versuch, ihm zu helfen. Trotz der braungebrannten Haut sahen ihre
Gesichter spitz und übermüdet aus, unbeweglich hockten sie in einer Reihe vor
einem Schott. Die ständige Hitze und die täglichen, massiven Antibiotika-Gaben
nahmen ihnen alle Energie.
    Als die Sonne
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