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Kann ich gleich zurueckrufen

Kann ich gleich zurueckrufen

Titel: Kann ich gleich zurueckrufen
Autoren: Barbara Streidl
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Maultier. Also nehme ich ihn auf den Arm und trage ihn. Ich will pünktlich sein. Als wir im Kindergarten ankommen, bin ich ganz schön außer Atem, fünfzehn Kilo Kind plus Tasche sind kein Fliegengewicht. Mein Sohn will runter. Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und läuft den anderen Kindern entgegen.
    »Tschüss, Tika«, sage ich und schaue ihm hinterher, nur für einen Moment. Die Zeit drängt. Ich laufe zur Haltestelle und erreiche gerade noch den Bus. Wieder außer Atem lasse ich mich auf einen Sitzplatz am Fenster fallen.
    Was ist mit dem Kleinen? Ich sehe im Handykalender nach, wann er das letzte Mal krank war. Husten hatte er letzte Woche, Bauchweh vor sechs Wochen. Es könnte gut sein, dass sich eine Frühlingserkältung anbahnt. Ich wähle die Nummer des Kindergartens und informiere die Leitung über den möglichen Zustand meines Sohnes. Ich bitte sie, mich im Falle einer Verschlechterung – Weinen, Husten, Fieber – zu benachrichtigen. Nach dem Telefonat behalte ich das Handy in der Hand. Ich bin nervös, rechne mit einem sofortigen Rückruf vom Kindergarten.
    Der Bus hält an. Eine Frau mit einem Kinderwagen steigt aus, die obligatorische Bananenschale in der Hand. Ein junger Mann in Anzug drängelt sich an ihr vorbei aus dem Bus. Sie sagt nichts, wahrscheinlich passiert ihr das nicht zum ersten Mal. Wohin sie wohl unterwegs ist, frage ich mich, und ob sie ein Ziel hat oder einfach einen Spaziergang macht mit ihrem Kind. Jetzt erst bemerke ich den blauen Himmel.
    »Hermannswetter« nannte meine Großmutter Tage wie diese. Das waren die Tage, an denen sie sich Zeit nahm, nach dem Frühstück einen Strauß Wiesenblumen zu pflücken, den sie dann auf den Friedhof brachte und an das Grab ihres jüngsten Kindes legte: Hermann. Der nur ein paar Wochen alt wurde. Blumen für Hermann pflücken, das hat meine Großmutter auch als ganz alte Frau noch gemacht. Ich habe sie manchmal begleitet.
    Der Bus fährt an. Kein Anruf auf dem Handy. Ich sehe aus dem Fenster und stelle mir meine Großmutter vor: graue Haare, klein und immer eine bunte Schürze über dem Rock. Sie hat fünf Kinder zur Welt gebracht, das erste mit achtzehn, das letzte mit dreißig. Meine Mutter war die Zweitjüngste, zwei Jahre älter als Hermann. Meine Großmutter hatte keine Ausbildung, sie heiratete sehr früh und war dann zu Hause. Sie hat gekocht, geputzt und ihren Garten gepflegt. Wenn ich sie besuchte, stand sie in der Küche, backte Kuchen oder weckte Obst aus dem Garten ein. Sie saß niemals auf dem Sofa. Meine Großeltern hatten einen Fernseher, aber meine Großmutter sah nie fern. Zu viel zu tun, sagte sie, ohne jammernden Unterton. Ich glaube, meine Großmutter liebte ihr Leben als Hausfrau und Mutter.
    Ganz anders meine Mutter. Sie hasste das Leben in einem Dorf mit Eltern, Geschwistern, Onkeln, Tanten, Großeltern. Überall Familie und sich den ganzen Tag um den Gemüsegarten, die Hühner und die Wäsche kümmern – so hat sie ihr Elternhaus mal beschrieben.
    Meine Mutter ist 1943 geboren. Im selben Jahr wurde mein Großvater eingezogen, kam aber bald schwer verletzt zurück. Er hatte ein Bein an der Front verloren und lag lange im Bett. Meine Großmutter pflegte ihn und kümmerte sich um seine Werkstatt, den Haushalt und die Kinder. Die mussten zu Hause immer auf Zehenspitzen laufen und durften niemals laut reden, um den Heilungsprozess nicht zu stören, hat meine Mutter über diese Zeit gesagt.
    Der Bus hält wieder an. An der nächsten Haltestelle muss ich aussteigen. Ich kontrolliere kurz den Inhalt meiner Tasche: Sandeimer, Bagger und zwei Schaufeln habe ich dabei, ebenso die blaue Flasche mit Saft und Wasser. Ich möchte nach der Arbeit mit dem Kleinen auf den Spielplatz, ihm von einer Schatzsuche erzählen und gemeinsam ein großes Loch graben. Heute Morgen habe ich zur Bluse einen weiten Cordrock angezogen, der sich gut waschen lässt, das klassische Spielplatz-Outfit einer berufstätigen Mutter. Geschichten erzählen und Löcher graben – so was hätte mein Großvater nie mit seinen Kindern gemacht, wenn ich den Erzählungen meiner Mutter glaube. Als er nach Kriegsende gesund genug war, um aufzustehen, übernahm er wieder die Chefposition in der Familie. Die Zeit, in der er das Bett nicht verlassen konnte, wurde zum Tabuthema. Meine Großmutter musste ihr Mitspracherecht in wichtigen Dingen wieder abtreten und ihm die Kinder vom Hals halten. Denn: Er war der Mann. Er war wichtig. Er verdiente das Geld. Und er sagte,
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