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Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Titel: Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
Autoren: Kirstin Warschau
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ihn nicht lange überreden müssen, noch eine kleine Ausfahrt zu unternehmen.
    Auf dem Spielplatz angekommen, kickten sie mit einem Jonglierball herum, bis Finn-Lukas den Ball unbeabsichtigt, aber mit voller Wucht in die Sandkiste schoss. Er verfehlte den Kopf eines zweijährigen Mädchens nur um Haaresbreite, und die Mutter, die danebensaß und Sandförmchen füllte, bekam einen Tobsuchtsanfall. Die Jungen stiegen auf ihre Räder und fuhren weiter. Sie warfen kleine Steine nach den Mufflons, die im städtischen Tiergehege vor sich hin dösten, und gondelten schließlich den Weg am Kanal entlang, auf dem ihnen ein Grüppchen sonnengebräunter Rentner mit Fahrrädern entgegenkam.
    Unter dem Brückenpfeiler der alten Levensauer Hochbrücke warfen die Jungen ihre Räder zu Boden und kletterten die Böschung hinauf. Es war kurz vor acht, und die Hitze des Tages staute sich zwischen den Büschen am Fuß des Bauwerks. Oben im mächtigen Brückenpfeiler überwinterten in der kalten Jahreszeit Tausende Fledermäuse. Leon und Finn-Lukas kannten die Stelle, an der die Tiere in das Gemäuer einflogen. Sie kannten auch die geheime Einstiegsöffnung, die es einem kleinen, sehr schmalen Menschen ermöglichte, in das Gewölbe im Widerlager der Brücke hineinzukriechen, ohne die stets fest verschlossene Stahltür zu benutzen.
    Eigentlich hätten die Jungen um diese Zeit längst wieder zu Hause sein sollen. Aber heute war Werner Witte mit Leons kleiner Schwester nach Hamburg gefahren, um sie für drei Tage bei der Oma abzuliefern. Seine Mutter nutzte den freien Abend für eine besonders große Laufrunde und würde nicht vor Einbruch der Dunkelheit zurückkommen. Und das Au-pair-Mädchen von Finn-Lukas war nach der Vorabendserie ermattet vor dem Fernseher eingeschlafen.
    Die beiden glücklich Vergessenen setzten sich am Fuße des Brückenpfeilers ins verdorrte Gras und streckten die Beine aus. Leon zog eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Der Rauch brannte ihm in der Kehle, aber er paffte entschlossen, während Finn-Lukas einer Jacht nachsah, die in gemächlichem Tempo Richtung Holtenauer Schleusen fuhr.
    »Wollen wir rein?«, fragte Leon hustend und deutete auf den Brückenpfeiler.
    »Weiß nicht, ist doch voll kalt in der Gruft.«
    Sie schwiegen, während ein Schwarm Mücken sie umsurrte.
    Finn-Lukas legte den Kopf in den Nacken und sah verträumt hinauf zu dem sonnenbeschienenen Brückenbogen aus genietetem Stahl. Die Brücke war schon über hundert Jahre alt und sollte demnächst abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden.
    »Wie wär’s, wenn wir mal da raufklettern?«, schlug Finn-Lukas vor. »Oder traust du dich nicht?«
    Leon zuckte mit den Achseln. »Doch, klar.«
    Er stand auf und warf seine Zigarette zu Boden.
    Für die beiden Jungen war es kein Problem, den Granitsockel zu erklimmen und in die Stahlkonstruktion hineinzuklettern. Die rötliche Farbe, mit der das Metall gegen die Witterung geschützt wurde, war rau, und die Eisennieten boten ihren Turnschuhen zusätzlich Halt. Schon bald lag der Kanal tief unter ihnen. Die Entfernung bis zur Wasseroberfläche war schwindelerregend. Eine warme Luftströmung unter der Brücke erfasste sie und ließ ihre Haare fliegen.
    »Wow«, sagte Leon.
    »Cool!«, meinte Finn-Lukas, aber seine Stimme klang dünn und beklommen. Trotzdem kletterten sie weiter voran. Anfangs hatten sie noch kichern müssen, aber je näher sie der Fahrbahn über ihren Köpfen kamen, desto stiller wurden sie. Plötzlich hörten sie ein dumpfes Grollen, das schnell lauter wurde. Es folgte ein unheimliches Getöse, die Stahlteile, auf denen sie hockten, vibrierten, und die ganze Brücke geriet in Schwingung. Leon blieb die Luft weg, während er sich festklammerte. Finn-Lukas riss erschrocken die Augen auf und wimmerte leise.
    Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war die Regionalbahn von Kiel nach Flensburg über sie hinweggerast, aber ihre Herzen schlugen noch lange sehr schnell.
    »Cool«, sagte Finn-Lukas wieder, doch seine Hände zitterten.
    Die Jungen beugten sich vor, legten ihre Oberkörper auf den warmen Stahl und sahen hinab. Sie befanden sich auf der südwestlichen Seite der Brücke. Die Abendsonne stand über den Feldern. An einigen Stellen erreichten die Sonnenstrahlen die Wasseroberfläche des Kanals und brachten die Wellen tief unten zum Glitzern. Ein kleiner Frachter fuhr unten vorbei. Finn-Lukas winkte, aber niemand an Deck schien ihn zu bemerken. Leon
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