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Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Titel: Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
Autoren: Kirstin Warschau
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sammelte Speichel in seinem Mund und ließ ihn hinabtropfen. Die Spucke wurde vom Höhenwind unter der Brücke erfasst, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie unten ankam.
    »Stell dir vor, wie’s wäre, sich hier abzuseilen«, sinnierte Leon.
    »Krass«, sagte Finn-Lukas. Plötzlich deutete er nach unten ins grünliche Wasser. »Sag mal, was ist das denn?«
    Im Kielwasser des gerade passierten Frachters hatten sich kleine schaumige Wirbel gebildet, und seitlich davon war ein Schatten zu erkennen.
    »Da schwimmt was.«
    »Was soll das sein?«
    Sie starrten beide auf den merkwürdigen Fleck unter der Wasseroberfläche, der langsam unter ihnen hinwegglitt. Es war ein unförmiger dunkler Körper, der dem Schiff wie von Geisterhand zu folgen schien.
    »Ein Riesenfisch oder so was!«
    »Ein Alien.«
    Keiner der beiden lachte.
    Sie starrten auf die ungewöhnliche Erscheinung, bis sie außer Sichtweite war. Ein paar Mal spuckten sie noch in den Kanal, dann erinnerten sie sich daran, dass sie Hunger hatten.
    Beim Zurückklettern, in etwa dreißig Metern Höhe, rutschte Leon ab. Er schrie auf. Sein rechter Turnschuh verklemmte sich zwischen zwei Stahlkanten und verhinderte in letzter Sekunde, dass er von der Brücke fiel. Als die beiden wieder festen Boden unter den Füßen hatten, spürten sie eine gehörige Portion Erleichterung.
    Wortlos radelten sie nach Hause.
    Später lag Leon im Bett und konnte nicht einschlafen. Er steckte in einer Zwickmühle. Gern hätte er seinem Vater von dem merkwürdigen Ding im Kanal erzählt. Werner Witte wüsste vielleicht, worum es sich gehandelt haben könnte. Aber Leon hätte sich niemals getraut zuzugeben, dass er auf der Brücke herumgeklettert war. Denn auch wenn sein Vater sich gern mit den Abenteuern seiner eigenen Kindheit brüstete, so würde er garantiert ausrasten, wenn er hörte, dass sein Sohn fast von der Brücke gestürzt war. Er würde ihm womöglich sogar verbieten, sich weiter mit Finn-Lukas zu treffen. Und dann wären die Ferien völlig ruiniert.
    Ein paar Straßen weiter schlief Finn-Lukas tief und fest. Trotz des gegenseitigen Versprechens, dass ihre Brückenexkursion ein Geheimnis bleiben sollte, hatte er nach seiner Rückkehr versucht, dem verschlafen dreinblickenden Kindermädchen von der ganzen Sache zu erzählen. Aber die gelangweilte junge Frau, der deutschen Sprache erst zu einem kleineren Teil mächtig, hatte nur verständnislos die schmalen Schultern gezuckt und nicht mal versucht, ihr Gähnen zu unterdrücken.

4
    I n den letzten Wochen und Monaten hatte Hedda Marxen viel über ihr Leben nachgedacht. Eigentlich hielt sie sich für eine pragmatische Frau, die alles gut im Griff hatte. Jahrelang hatte sie Familie, Haus und Garten perfekt gemanagt, zwei lebhafte Jungen großgezogen und auch sonst alles in Ordnung gehalten. Aber kurz vor Pfingsten hatte sie ihren Neunundvierzigsten gefeiert, und zwar allein, weil den übrigen Familienmitgliedern offenbar andere Verpflichtungen wichtiger gewesen waren. Sie hatte versucht, an diesem Tag nicht allzu melancholisch zu werden, aber sie hatte sich doch ihre Gedanken gemacht und eine Art Bilanz gezogen.
    Ihr Mann Christoph war selten zu Hause. Er war Architekt und arbeitete seit vielen Jahren in Hamburg. Weil er häufig Abendtermine hatte und ihm die dauernde Fahrerei zu beschwerlich geworden war, blieb er die Woche über meist in seinem Apartment in der Speicherstadt und kehrte nur noch am Wochenende ins Familienhaus nach Groß Nordsee zurück. Die Zwillinge, Niklas und Moritz, studierten in Bremen und Hannover, und leider hatte Hedda sie so selbstständig erzogen, dass sich die beiden mit Nachdruck gegen jedwede mütterliche Hilfe verwehrten.
    An ihrem Geburtstag hatte Hedda Marxen allein auf der Terrasse gesessen und die Schiffe betrachtet, die in gemächlichem Tempo die Kanalweiche vor Schinkel passierten. Abgesehen von drei Kollegen ihres Mannes, die sie pflichtschuldigst angerufen hatten, waren keinerlei Gratulationen eingetroffen. Verzweifelt hatte sie der Versuchung standgehalten, sich einen kleinen Whisky einzuschenken. Gegen Abend hatte sie beschlossen, etwas in ihrem Leben zu ändern. Sie hatte sich vorgenommen, nun endlich den Führerschein zu machen. Seitdem fieberte sie nervös wie ein Teenager den Fahrstunden entgegen, die immer montags und mittwochs stattfanden. Außerdem hatte sie sich daran erinnert, wie gut es ihr tat, regelmäßig schwimmen zu gehen. Deshalb fuhr Hedda Marxen seit Anfang Mai
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