Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)

Titel: Kanalfeuer: Ein Fall für Olga Island (German Edition)
Autoren: Kirstin Warschau
Vom Netzwerk:
zum ersten Mal nach Maries Tod ihr Opernglas aus dem Schrank geholt. Meterhoch waren die Flammen in den Himmel geschlagen. Er hatte unbeweglich am Fenster gesessen und sich selbst dann nicht gerührt, als die Feuerwehr alle Bewohner im Umkreis von einem Kilometer aus den Häusern geklingelt und evakuiert hatte. Er hatte in seiner Wohnung gesessen und hinübergestarrt, während draußen nur das beherzte Eingreifen aller Wehren aus Kiel und Umgebung, unterstützt von zwei Feuerlöschschiffen, eine Katastrophe hatte verhindern können. Die nahe gelegenen Öltanks hatten nur dank der Kühlung mit Kanalwasser der Hitze standgehalten. Der Anleger der Kanalfähre war zerstört worden, doch die Schleusentore des Nord-Ostsee-Kanals, die nur wenige Hundert Meter von der Unglücksstelle entfernt waren, blieben unversehrt.
    In den Nächten nach dem großen Feuer hatte Hans Hinrichs kein Auge zugetan. Das Ereignis hatte seine Erinnerungen an den Krieg zu neuem Leben erweckt. An die Zeit, als er mit seiner kleinen Schwester nach einem Bombenangriff aus dem Bunker gekrochen war und ihr Zuhause einfach nicht mehr da gewesen war. Die Reste des zerstörten Mietshauses hatten gebrannt, und alle, die wie seine Mutter im Keller Zuflucht gesucht hatten, waren erstickt. Zusammen mit seiner Schwester war er über die beschädigte, nur notdürftig geflickte Holtenauer Hochbrücke geirrt, mit versengten Haaren und verkohlter Kleidung, raus aus der Stadt, fort, nur fort von Hitze, Qualm und Tod. Nach ein paar Nächten allein im Freien waren sie, als sie die Strände nach etwas Essbarem absuchten, auf eine Bekannte ihrer Mutter gestoßen. Die Frau, die ihre eigenen Kinder bei einem Tieffliegerangriff verloren hatte, nahm die fremden Kinder bei sich auf. Tag für Tag, Jahr um Jahr, hatte sie vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft gehofft. Er blieb verschollen. Hans Hinrichs erinnerte sich an eiskalte Winter, ewig verlauste Köpfe und den Hunger. Und an den Tag, als ihn und Anne die Nachricht erreichte, dass ihr Vater bei einem Einsatz in einem Kleinst-U-Boot gefallen war.
    Nach dem Feuer im Paraffinlager war Hinrichs tage- und nächtelang durch seine Wohnung gelaufen, er hatte angefangen, Selbstgespräche über den Krieg zu führen, und hatte vergessen, zu essen und zu trinken. Ewa, seine Pflegerin vom mobilen Betreuungsdienst, hatte Dr. Peters angerufen, der ihm ein Beruhigungsmittel verschrieben hatte. Hans Hinrichs hatte wieder schlafen können, aber er war ängstlicher geworden, am Morgen verwirrt, am Abend oft traurig und unruhig.
    Hinrichs richtete das Opernglas wieder auf den Fremden, der noch immer an derselben Stelle stand. Nach einer Weile zuckte der Strahl einer Taschenlampe über das Wasser. Er schien den Grund abzuleuchten. Doch schon bald schaltete er das Licht wieder aus.
    Er wartete auf etwas.
    Und Hans Hinrichs, alt, zittrig, aber wach und aufs Äußerste gespannt, wartete mit ihm.

3
    L eon Witte hatte seit einer Woche Sommerferien, aber genießen konnte er sie nicht. Er war zwölf Jahre alt und hatte die sechste Klasse des Gymnasiums mit Müh und Not geschafft, eine Tatsache, die sein Vater nicht hinnehmen wollte. Werner Witte hatte deshalb einen Studenten engagiert, der seinem Sohn vormittags von neun bis zwölf Uhr Nachhilfeunterricht erteilte. Für den Nachmittag bekam der Junge schriftliche Aufgaben, die er am nächsten Morgen abzuliefern hatte. Zu allem Überfluss musste Leon mehrmals die Woche anschließend auf seine kleine Schwester aufpassen, weil seine Mutter am späten Nachmittag für den nächsten Marathon trainierte.
    Früher waren die Wittes im Sommer nach Südfrankreich in den Urlaub gefahren, aber seit sie ihre Doppelhaushälfte in einem Neubaugebiet in Suchsdorf bezogen hatten, war das Geld knapp geworden, und sie blieben zu Hause. Wenn Leon die Aufgaben erledigt hatte, schaute er meist bei seinem Freund Finn-Lukas vorbei, der ein paar Straßen weiter wohnte. Dessen Eltern hatten zwar genug Geld, um zu verreisen, aber sie konnten sich im Sommer nicht freinehmen. Also hockte Finn-Lukas unter der Aufsicht eines magersüchtigen russischen Au-pair-Mädchens zu Hause, langweilte sich und sehnte sich nach Abwechslung.
    Wenn Leon ihn besuchte, fuhren sie meistens mit ihren Crossrädern in der Gegend herum. Manchmal landeten sie dann auf dem Kinderspielplatz am Rande der Siedlung. So auch an diesem Tag, an dem Leon erst gegen halb sieben abends bei Finn-Lukas geklingelt hatte. Er hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher