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Kaltherzig

Titel: Kaltherzig
Autoren: Tami Hoag Fred Kinzel
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Körpers der Zerfall einsetzt und sich Gase bilden, die ihn grotesk aufblähen; lange genug, damit sich die Haut abzuschuppen beginnt; lange genug, dass Fische und Insekten von dem Körper fressen und in ihn eindringen.
    Ich hatte Irina zuletzt am Samstagnachmittag gesehen. Jetzt war Montag.

    Ich sah nicht hin, als man sie aus dem Wasser zog - nicht direkt jedenfalls. Ich hätte mich von Landry nach Hause fahren lassen und mir die ganze Prozedur ersparen können, aber ich fühlte mich verpflichtet, wenigstens noch eine Weile zu bleiben. Irina hatte zu meiner Ersatzfamilie gehört. Ich empfand ein seltsames Bedürfnis, sie zu beschützen.
    Zu wenig, zu spät, leider.
    Uniformierte Deputys erhielten den Befehl, den toten Alligator auf die Uferböschung zu ziehen. Die Leute des Coroners überwachten die Entfernung von menschlichem Gewebe aus dem Gebiss des Reptils.
    Ich rauchte eine zweite Zigarette. Meine Hände zitterten immer noch.
    Ich lehnte mich mit dem Rücken an meinen Wagen, zu angespannt, um mich zu setzen.
    Früher, als ich noch bei der Truppe war, wie man bei der Polizei sagt, ließ ich nichts an mich heran. Ich war gefühllos, durch meine Adern floss Eiswasser. Kein Fall, den ich nicht in Angriff genommen hätte. Ich hatte eine Mission zu erfüllen: Gerechtigkeit zu bringen - oder zumindest dem Staatsanwalt die Bösewichter gut verschnürt auf dem Silberteller zu servieren. Ich bewegte mich von Fall zu Fall wie ein Süchtiger, der permanent auf der Suche nach dem nächsten Schuss ist.
    Das letzte Mordopfer in meiner Dienstzeit war jemand gewesen, den ich gekannt, jemand, mit dem ich gearbeitet und den ich gemocht hatte. Seine Ermordung war meine Schuld gewesen. Ich hatte die falsche Entscheidung getroffen, als ich vorschnell handelte und ein Crystal-Labor im ländlichen Loxahatchee stürmte. Einer der Dealer, ein
wildäugiger Einheimischer namens Billy Golam, hatte eine 357er direkt auf mein Gesicht gerichtet - und sich dann abrupt umgedreht und gefeuert.
    Ich sah voller Entsetzen, wie die Kugel Deputy Hector Ramirez ins Gesicht traf und ihm den Hinterkopf wegriss, wie Blut und Gehirnmasse an die Wände und die Decke spritzten und den Lieutenant besudelte, der hinter ihm stand.
    Drei Jahre waren seither vergangen, und noch immer wiederholte sich die Szene in meinen Albträumen. Das Gesicht von Hector Ramirez geisterte jede Nacht durch meine Erinnerung.
    Ich nahm an, dass heute Nacht Irinas Gesicht das des Mannes überlagern würde, der wegen mir gestorben war. Es würde Irinas blassblaues Gesicht sein, das mich durch den Nebel des Schlafs ansah, ihre verwüsteten Augen und Lippen. Bei dem Gedanken wurde mir sofort wieder übel.
    Wie gut ich sie gekannt hatte, hatte Landry wissen wollen.
    Ich kannte sie seit über einem Jahr und hatte sie dennoch überhaupt nicht gekannt. Unser beider Leben mochte um die gleiche Mitte gekreist sein, jedoch ohne sich zu berühren. Ich bedauerte das nun. Die Reue des schlechten Gewissens - die jeder von uns empfindet, wenn etwas aus unserem Leben verschwunden ist, das wirklich kennenzulernen wir uns nie die Zeit genommen haben. Wir glauben immer, dass später noch Zeit sein wird, nach diesem, nach jenem... Aber nach dem Tod ist keine Zeit mehr.
    Auf der anderen Kanalseite waren Landry und die Übrigen in ihre Aufgabe vertieft, den Fundort auszuwerten und Hinweise zu sammeln. Sie würden noch lange damit beschäftigt
sein. Sie erwarteten - wollten - nichts von mir außer meiner Aussage, die Landry später aufnehmen würde.
    Irina war tot. Daran konnte ich nichts mehr ändern. Es nützte ihr nichts, wenn ich hier herumstand und zusah, wie Leute um ihre sterblichen Reste herumstiegen wie um einen Sack Müll, der von Aasfressern aufgerissen wurde.
    Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, sie im Leben kennenzulernen. Bevor diese Geschichte vorbei war, würde ich sie gut kennen - es war das, was ich jetzt noch für Irina tun konnte. Schon da wusste ich, dass mich diese Reise an Orte führen würde, die ich lieber nicht aufsuchen wollte. Wenn ich genau gewusst hätte, wohin, hätte ich an diesem Tag vielleicht eine andere Entscheidung getroffen... Aber wahrscheinlich nicht.
    Als hätte er gespürt, in welche Richtung meine Gedanken gingen, sah Landry mich an und runzelte die Stirn. Ich stieg in meinen Wagen, wendete und fuhr nach Hause.
     
    Irina und ich waren zur selben Zeit und wegen desselben Jobs zu Seans Farm gekommen. Zufall, wenn man daran glaubt. Schicksal, wenn man an mehr
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