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Kaktus zum Valentinstag

Kaktus zum Valentinstag

Titel: Kaktus zum Valentinstag
Autoren: P Schmidt
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habe.
    »Warum habt ihr denn das Ding mitgebracht?«
    »Sieh mal rein, einer hat noch was reingeschrieben!«
    Ich nehme das Büchlein und entdecke tatsächlich einen neuen Text auf einer Seite, die damals neben etlichen für Mitschüler vorgesehenenSeiten auch immer leer geblieben war. Dort steht mit der Handschrift meines Vaters, des braunen Brummelbären, geschrieben:
    »Gehst Du ins Leben nun hinaus,
    halt eins hoch › Dein Elternhaus ‹ .
    Wie glücklich Dir auch fällt Dein Los,
    vergiss es nicht, es zog Dich groß.
    Mit den besten Wünschen
    für den weiteren Lebensweg!«
    Mit diesen Worten verabschiedet mich mein Vater, der sich nur selten um mich gekümmert hat, in die Unabhängigkeit. Brauner Brummelbär heißt er deswegen, weil er oft brummelte und meist braune Stoffhosen trug, wenn er gerade mal nicht in blauen Arbeitsklamotten steckte.
    Als ich am nächsten Tag von der Uni nach Hause komme, finde ich einen kleinen Zettel auf meinem Schreibtisch. Darauf steht: »Ihre Mutter hat angerufen! Ihre Tante ist gestern Abend gestorben und am Mittwoch ist die Beerdigung. Sie möchten einmal daran denken.« Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass es sich um Tante Else handelt.
    Die Locken kennt keine Tränen der Trauer von mir. Auch deswegen fordert sie mich immer wieder auf, »menschlicher« zu werden. Als zum Beispiel meine Omas starben, zogen für mich ihre hinterbliebenen Körper auf den Friedhof. Dort wurden sie zu Erblassern. So stand es jedenfalls immer auf einem Formularzettel. Tote nennt man im Amtsdeutsch offenbar so merkwürdig, weil ihre Hautfarbe erblasst, dachte ich. Das war alles. Ich trauere auch, aber anders als die Menschen, die ich kenne. Die regnen bei einem Todesfall oft im Gesicht, was ich bis heute nicht verstehe.
    Tante Else war die Frau von Onkel Willi, der mit mir früher die lange Brücke über die Gleisspaghetti der Eisenbahn überquert hat, um mit mir zur autovollen Straße am Bahnhof und zur autoleeren Berlin-Autobahn zu gehen. Wo es leider keine Ausbeute für meine Autonummernbücher gab, in denen ich alle Fahrzeuge notierte, deren Ortskennzeichen ich zum ersten Mal sah. Beide wohnten früher in Peine, dort, wo das Eisen fauchend glühte und wo die Rohre im Rohrraum gluckurgelten.
    Ganz in der Nähe ihrer alten Wohnung lag auch der Bahnhof. Immer wenn dort ein Zug hielt, tönte es aus schwarzlochigen, blechernen Trichtern: »Peine, hier Peine!« Gleich neben dem Bahnhof lag damals auch der drohglockende, rot-weiß gestangte, klengschrankende Bahnübergang. Das war früher die beste Stelle in der ganzen Stadt. Denn dort woppten die Autos über die schräglagigen Gleise. Rauf rein in die Stadt. Runter raus aus der Stadt. Bis die rot-weißen Stangenschranken drohglockten und immer wieder alles zugwartend erstarrte.
    Dort erlebte ich stets ekstatische Freude. Dann tänzelte ich mit den Beinen und flatterte mit den Armen und Händen. Wie ein Vogel, so nannten es andere, die es sahen. Für diese anderen war ich stets der geheimnisvolle kleine Junge, der immer und überall seltsame Sachen machte.
    Die gute alte Tante Else brauchte sich nun also endlich nicht mehr im Bett wund zu liegen, brauchte endlich keinen Gehbock mehr zu heben. Bei Tante Else durfte ich alle Schränke aufmachen, um zu schauen, was drinnen stand und lag. Tante Else, die mich immer fest drücken wollte, gegen meinen Widerstand, weil ich Schwierigkeiten hatte, angefasst zu werden. Tante Else, die immer den kuchigen Kaffee hatte, diese Tante Else ist nun also entkörpert.
    Sie hatte allen Grund zu verzweifeln, doch sie war bis zuletzt ein lebensfroher Mensch gewesen. Auch dann noch, als sie längst ans Bett gefesselt war. Tante Else war immer lieb zu mir, sie war eine der Tanten, die mich bewunderten.
    Immer mehr lieb gewonnene Menschen entschwinden auf einmal aus meinem Erleben, ohne dass neue nachkommen. Menschen, die meine Kindheit beeinflussten. Ältere Menschen, denn mit Gleichaltrigen spielte ich selten, als Jugendlicher fast gar nicht mehr. Ich spüre, wie ich immer mehr alleine zurückbleibe.
    Ich muss selber für neue Freunde sorgen, die alte ersetzen können. Und in ferner Zukunft auch für eigene Kinder. Und das alles fällt mir schwer. Warum? Tante Elses Tod führt mir wieder einmal die Vergänglichkeit allen Seins vor Augen. Alles, aber auch alles, was deine Zeit als Kind geprägt hat, entschwindet auf einmal, sage ich mir.
    Das Land, von dem ich aufbrach, ist auf einmal außer Sichtweite. Vor mir liegt
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