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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12
Autoren: Valentin Senger
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ich ihnen geben.
    Nach etwa einer Dreiviertelstunde wurde es still. Sie waren wieder abgezogen.
    Wir warteten noch etwas, bevor wir die Tür aufbrachen und sehen konnten, was passiert war. Die Räume und das Mobiliar waren nur wenig beschädigt. Aber es fehlten alle Wertgegenstände, Uhren, Bestecke, Silberleuchter. Außerdem hatten es die Polen auf Textilien, Schuhe und Stiefel abgesehen.
    Die Frauen schlichen von einem Zimmer ins andere, schauten in die leeren Schränke und Schubladen, jammerten, weinten und fluchten auf die Polen.
    Ich empfand kein Mitleid mit ihnen, obwohl sie Schlimmes durchgemacht hatten. Wenn ich in diesem Augenblick mit den Frauen am gleichen Strang zog, waren sie noch lange nicht meine Schicksalsgenossen. Unser Zwangsaufenthalt zwischen Abortschüssel und Badewanne hatte uns keinen Zentimeter nähergebracht. Von Anfang an mochten wir uns nicht. Die Abneigung war gegenseitig.
    Alle Frauen im Jagdhaus mißtrauten mir, und auch der andere Soldat aus dem Ursulinenkloster. Sie beobachteten jeden Schritt, den ich tat und jede Arbeit, die ich machte. Sie hörten zu reden auf, wenn ich vorbeikam, schlossen häufig die Tür hinter sich und tuschelten miteinander. Frau S. gab ihre Aufträge jetzt meist nur noch an den andern Soldaten weiter.
    Das Mißtrauen war noch dadurch verstärkt worden, daß sie zwar beobachteten, aber nicht verstanden, was ich mit dem amerikanischen Soldaten wegen meines Passes gesprochen hatte.
    Frau S. wollte später einmal, nachdem ich schon von den Amerikanern meine Prügel bekommen hatte, wissen: »Was haben Sie denen für einen Ausweis gezeigt?«
    »Einen Fremdenpaß.«
    »Sind Sie kein Deutscher?«
    »Nein.«
    »Was sind Sie denn?« »Staatenlos.«
    »Und wieso haben Sie in der Wehrmacht gedient?« »Das müssen Sie andere fragen.«
    »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht.«
    Damit war das Gespräch zu Ende, doch ich spürte deutlich, wie das Mißtrauen weiter wuchs.
    Ich grübelte darüber nach, wie ich von dem Jagdhaus loskommen könne. Doch zu dem Zeitpunkt war es unmöglich, einen einmal gefundenen Unterschlupf zu verlassen. Wo sonst sollte ich mich verstecken?
    Mich den Besatzungssoldaten anzuvertrauen war undenkbar. Welcher Amerikaner hätte mir schon geglaubt? Meine Geschichte war zu phantastisch. Nach Hause konnte ich auch nicht, nach wenigen Kilometern bereits würden sie mich gefaßt haben. Ständig sah man amerikanische Lastwagen vollgestopft mit deutschen Soldaten und Zivilisten über die Straße fahren. Sollte es mir genauso ergehen wie denen, die sie in Gefangenenlager abtransportierten?
    In welch einer Lage war ich! Die Todesangst, als Jude erkannt zu werden, war von mir genommen. Aber eine andere hatte sich eingenistet: die Angst, als Deserteur entlarvt zu werden.
    Ich fühlte mich in meiner Haut immer weniger wohl. Es war eine fatale Situation, und mir fiel nichts ein, sie zu ändern. Also blieb ich in der Jagdhausgesellschaft, blieb der Beschützer der Frauen vor plündernden amerikanischen Soldaten und ehemaligen Zwangsarbeitern und lebte in der Furcht, den Schädel eingeschlagen zu bekommen.
    Ich wollte mir nicht eingestehen, daß das Jagdhaus mir auch eine gewisse Geborgenheit gab und ich aus diesem Grund keinen Weg fand, es zu verlassen. Es war doch, bei allen Ängsten, die ich hatte, eine Höhle, ein Nest. Gewiß, eine kotige Höhle, aber sie gab Wärme; ein Nest aus Stacheldraht, aber es gab Schutz. Wie sehr mir die Mitbewohner zuwider sein mochten, gemeinsam waren uns unsere Ängste und unser Zittern, es war trotz allem eine Geborgenheit.
    Der Raubüberfall der Polen wurde auch den amerikanischen Besatzern bekannt. Darum kamen jetzt mehrmals am Tag Patrouillen vorbei, um im Jagdhaus nach dem rechten zu sehen. In Wirklichkeit aber sahen sie mehr nach dem Schnaps, den es in unserem Haus gab und den Justus Mohl besorgte. Das fiel ihm nicht schwer, denn nach der Flucht der deutschen Truppen hatte die Bevölkerung der näheren Umgebung die Vorratslager der Fritzlarer Kaserne und einen Versorgungszug mit Lebensmitteln auf der Bahnstrecke Fritzlar-Kassel geplündert. Dabei waren auch viele Flaschen Schnaps erbeutet worden. Der Tauschhandel blühte in dieser Zeit, und gern gaben die Menschen eine oder zwei Flaschen Schnaps für ein Stück Wild, das ihnen der Jagdaufseher anbot. So konnte Justus die schnell zur Neige gehenden Alkoholvorräte immer wieder ergänzen.
    Die amerikanischen Soldaten ließen sich gern bewirten, denn die reguläre
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