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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12
Autoren: Valentin Senger
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tun?« »Ich möchte zu meiner Familie nach Frankfurt zurück. Können Sie mir einen Passierschein ausstellen, daß ich auch durchkomme?«
    »Und sonst nichts?«
    »Sonst nichts. Ich will nur nach Hause.«
     
    Einen Tag später verließ ich das Jagdhaus, dessen Gesellschaft, die drei Offiziersfrauen und den Möbelfabrikantensohn, ich schon lange nicht mehr ertragen konnte, nahm Abschied von dem schlitzohrigen Justus Mohl und seiner Frau, deren armseliges Leben mich tief schmerzte und die mir für wenige Wochen eine gute Mutter gewesen war, verließ Heimarshausen und die kranke Gerdi mit dem Pferdegebiß, bei der es einmal nicht geklappt und einmal doch geklappt hatte und die mich in einer einzigen Stunde die ganze Misere der Jagdhausgesellschaft vergessen ließ.
    In der Tasche hatte ich einen Passierschein, der mir bis Frankfurt freies Geleit sicherte. Das war Ende April 1945.
     
    Am 8. Mai, dem Tag der Kapitulationsunterzeichnung, kam ich in Frankfurt an. In der Nähe des zerstörten Eisernen Stegs erreichte ich den Main. Alle Mainbrücken, die Frankfurt mit Sachsenhausen verbanden, waren von den deutschen Truppen bei ihrem Rückzug gesprengt worden.
    Mit einem Fischerkahn, der als Notfähre diente, setzte ich über. Auf der anderen Mainseite sah ich bereits den zerbombten Römer und den stark beschädigten Kaiserdom. Mitten im Fluß geriet der Kahn ins Schwanken, weil zwei Männer, die mit ihren Fahrrädern in der Mitte standen, aus dem Gleichgewicht gekommen waren. Ein Fahrrad fiel gegen meine Knie und drückte mich fast über Bord. Nur das geschickte Manöver des Fährmanns verhinderte, daß ich hinunterkippte. Mein linker Arm war schon eingetaucht.
    Mit einem nassen Jackett und mit klopfendem Herzen lief ich durch das Ruinenfeld und über Berge von Schutt, vorbei an der zerstörten Hauptwache, in Richtung Opernplatz. Noch die letzten Häuser der Altstadt lagen in Trümmern oder waren ausgebrannt, auch große Teile der Innenstadt gab es nicht mehr.
    Je mehr ich mich der Kaiserhofstraße näherte, desto zittriger wurde ich in den Knien. Ich ging langsamer. Da war der Milch-Kleinböhl, dann kam der Obst-Weinschrod, und da war schon die Ecke vom Käs-Petri. Ich schaute die Straße hoch, suchte das Haus Nummer
12,
wo die Gaslaterne davorstand. Gott sei Dank, die Gaslaterne war noch da, und das Haus stand auch noch. Ob Papa und Paula wohl zu Hause waren? Papa bestimmt. Ich stellte mir vor, er würde, wenn ich in den Hinterhof käme, am Fenster stehen und auf die Einfahrt zum Hof hinunterstarren, weil er ja auf Alex und mich wartete.
    Ich bog in das Tor ein, ging durch den dunklen Gang und schaute hoch. Da stand Papa hinter dem Fenster und blickte nach unten, genau auf das Tor zum Vorderhaus, wo ich herkam. Es war mir, als habe er so Wochen und Monate gestanden, Tag und Nacht, und habe auf mich und auf Alex gewartet.
     
    Peter Härtling
     

NACHWORT
    In diesem Buch erzählt ein Davongekommener von einem Wunder, ohne sich zu wundern. Er weiß nämlich, daß Wunder von Menschen gemacht werden. Und daß sie - was sie unfaßbar werden läßt - mit dem Zufall verbündet sind. Damals, im Sommer 1977, als mir Eva Demski das Manuskript Valentin Sengers in die Hand drückte mit dem Wunsch, es solle unbedingt bei Luchterhand erscheinen, lag es mir noch fern, über Wunder in menschenfeindlicher Zeit nachzudenken. Ich hatte die Lektüre noch vor mir. Von Eva erfuhr ich, Valentin Senger arbeite als Redakteur beim Fernsehen des Hessischen Rundfunks. Er sei Jude, in Frankfurt zur Welt gekommen, und erzähle in dem Manuskript sein abenteuerliches Leben. Ich nahm an, daß er nach dem Krieg aus dem Exil zurückgekehrt war. Bis mir seine Erzählung beibrachte, über Wunder nachzudenken. Auch über die Fragwürdigkeit von Verallgemeinerungen.
    Der Anfang seiner Erinnerungen nahm mich mit ein paar Sätzen gefangen. Ich sehe das Kerlchen mit einem Blechclown unter einem runden Tisch spielen, an dem die Familie sitzt, sehe mit ihm das Gatter aus kräftigen Beinen, in Strümpfen, in Hosen. Ein Käfig oder ein Haus, wie es die Kaiserhofstraße 12 für die ganze Familie wurde. Je nachdem.
    Dem Verleger sagte die Geschichte nicht zu. Sie sei zu grobschlächtig erzählt. Vielleicht wehrte er sich gegen ihre Unmöglichkeit. An einem Sommernachmittag las ich ihm und anderen aus dem Verlag auf der Terrasse unseres Hauses das erste Kapitel vor. Ich gesellte mich zu dem Kind unterm Tisch, erfuhr mehr von seinem Papa, seiner Mama, von Schwester und
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