Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
kann ich die Leistung aller meiner Muskeln gleichmäßig steigern? Welche Muskeln benutze ich im täglichen Leben und welche kann ich nur durch Kraftsport aufbauen? Was ist die korrekte Haltung auf den Bänken? Glücklicherweise bin ich von Natur aus groß, und dank meines täglichen Trainings habe ich breite Schultern und einen muskulösen Brustkorb entwickelt.
    Fremde würden mich mittlerweile wahrscheinlich auf mindestens siebzehn schätzen. Mit der äußeren Erscheinung eines Fünfzehnjährigen bekäme ich garantiert überall Probleme.
    Außer mit den Trainern im Sportverein und der Haushaltshilfe, die jeden zweiten Tag zu uns kommt und ein paar beiläufige Worte mit mir wechselt, sowie bei ein paar unvermeidlichen Gesprächen in der Schule rede ich mit fast niemandem. Meinen Vater bekomme ich seit eh und je nur selten zu Gesicht. Obwohl wir in einem Haus leben, haben wir einen sehr unterschiedlichen Lebensrhythmus. Mein Vater ist fast den ganzen Tag in seinem Atelier. Unnötig zu erwähnen, dass ich stets darauf bedacht bin, ihm so wenig wie möglich zu begegnen.
    Die Schule, auf die ich gehe, ist eine Privatschule, die zum Großteil von Kindern aus besseren oder zumindest wohlhabenden Familien besucht wird. Solange man keinen allzu großen Unsinn fabriziert, kann man sie bis zum Abitur besuchen. Alle dort haben gerade Zähne, sind adrett gekleidet und reden langweiliges Zeug. Natürlich bin ich in meiner Klasse bei keinem beliebt. Um mich herum habe ich eine hohe Mauer gezogen, hinter der ich mich verschanze. Anderen verweigere ich jeden Zutritt. So einen mag natürlich niemand. Meine Mitschüler meiden mich und betrachten mich mit Argwohn. Oder sie finden mich unangenehm oder fürchten sich vielleicht sogar ab und zu vor mir. Aber eigentlich bin ich fast dankbar, wenn niemand mich beachtet. Denn das, was ich allein tun muss, türmt sich vor mir auf wie ein Berg. Meine Freizeit verbringe ich in der Schulbibliothek, wo ich ein Buch nach dem anderen verschlinge.
    Dem Unterricht hingegen folge ich mit großem Eifer, denn das hat mir Krähe besonders ans Herz gelegt.
     
    WAHRSCHEINLICH bist du der ansicht, dass das wissen und die fähigkeiten, die an der mittelschule gelehrt werden, DIR FÜR DEIN GEGENWÄRTIGES LEBEN NICHTS NÜTZEN. UND DASS DIE MEISTEN DEINER LEHRER VOLLTROTTEL SIND. KANN ich verstehen. Du HAST sogar recht, aber: Du WIRST von zu HAUSE fortgehen. deshalb solltest du, solange SICH DIR NOCH DIE GELEGENHEIT BIETET, SICHERHEITSHALBER SO VIEL stoff abspeichern, wie du kannst, ob es dir nun gefällt ODER NICHT. WIE LÖSCHPAPIER AUFSAUGEN. WAS DU DAVON BEHÄLTST UND WAS DU VERWIRFST, KANNST DU SPÄTER IMMER NOCH ENTSCHEIDEN.
     
    Ich folge seinem Rat. (In der Regel pflege ich Krähes Ratschlägen zu gehorchen.) Ich konzentriere mich, spitze die Ohren, und mein Gehirn saugt wie ein Schwamm alles auf, was im Unterricht gesagt wird. Dadurch gelingt es mir, in der kurzen Zeit der Schulstunden alles zu begreifen, sodass meine Leistungen in den Klassenarbeiten stets zu den besten gehören, obwohl ich außerhalb der Schule so gut wie nie lerne.
    Meine Muskeln werden hart wie Stahl, und ich werde immer wortkarger. Ich versuche, mein Mienenspiel beherrschen zu lernen, damit meine Lehrer und Mitschüler mir keine meiner Gefühlsregungen und Gedanken vom Gesicht ablesen können. Bald werde ich die unbarmherzige, grausame Welt der Erwachsenen betreten und dort ganz auf mich gestellt überleben müssen. Deshalb muss ich zäher und stärker werden als alle anderen.
    Im Spiegel sehe ich, dass meine Augen kalt glänzen wie die einer Eidechse und dass mein Gesichtsausdruck immer versteinerter und unnahbarer wird. Auch wenn ich darüber nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Oder gelächelt. Nicht einmal für mich selbst.
    Doch nicht immer gelingt es mir, meine stumme Isolation zu verteidigen. Der hohe Schutzwall, der mich umgibt, kommt leicht zum Einsturz. Das geschieht nicht oft, aber doch hin und wieder. Unerwartet fällt die Mauer, sodass ich der Welt nackt gegenüberstehe. In solchen Fällen überkommt mich Verwirrung. Grauenhafte Verwirrung. Und dazu kommt noch die Prophezeiung. Ständig lauert sie in mir wie ein dunkles, trübes Gewässer.
     
    STÄNDIG lauert die prophezeiung wie ein dunkles, trübes gewässer.
    NOCH lauert sie heimlich an irgendeiner unbekannten stelle. aber wenn die zeit kommt, wird sie lautlos überfliessen, deine zellen eine nach der anderen kalt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher