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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand
Autoren: Haruki Murakami
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bisschen unterhalten.«
    »Da bin ich ja froh. Du hattest Glück. Je nach Situation und Person redet er manchmal kein Wort.«
    »Ist etwas passiert?«, frage ich. »Er hat gesagt, es sei etwas Wichtiges.«
    Oshima nickt.
    »Ich habe dir einiges mitzuteilen. Zuerst einmal, dass Saeki-san gestorben ist. An einem Herzschlag. Am Dienstagnachmittag habe ich sie tot an ihrem Schreibtisch im ersten Stock gefunden. Es kam ganz plötzlich. Sie scheint nicht gelitten zu haben.«
    Ich stelle meinen Rucksack am Boden ab und setze mich auf einen Bürostuhl, der dort steht.
    »Am Dienstagnachmittag?«, frage ich. »Heute ist doch Freitag, oder?«
    »Ja, heute ist Freitag. Saeki-san ist am Dienstag nach der Führung gestorben. Ich hätte dir früher Bescheid geben sollen, aber ich konnte gar nicht mehr richtig denken.«
    Ich bin auf dem Stuhl zusammengesunken und kann mich nicht rühren. Oshima und ich sprechen lange kein Wort. Von dort, wo ich sitze, kann ich die Treppe sehen, die in den ersten Stock führt. Das blank polierte Geländer und das Buntglas am Treppenabsatz. Die ganze Zeit hat diese Treppe für mich eine tiefere Bedeutung besessen, denn sie führte mich zu Saeki-san. Doch nun hat sie sich in eine ganz banale, bedeutungslose Treppe verwandelt. Saeki-san ist nicht mehr da.
    »Wie ich schon sagte – es war wahrscheinlich schon vorher entschieden«, sagt Oshima. »Ich wusste es, und sie wusste es auch. Aber wenn es dann wirklich passiert, ist es doch sehr schwer.«
    Hier macht Oshima eine Pause. Eigentlich müsste ich etwas sagen, aber es kommen keine Worte.
    »Eine Feier soll nach dem Wunsch der Verstorbenen nicht stattfinden«, fährt Oshima fort. »Sie wird in aller Stille eingeäschert. In ihrem Schreibtisch im ersten Stock lag ein Testament. Ihr gesamtes Vermögen hat sie der Stiftung, die die Komura-Bibliothek verwaltet, vermacht. Ich erbe zum Andenken ihren Montblanc-Füller. Und du ein Ölbild. Das Bild mit dem Jungen am Strand. Du nimmst es doch an?«
    Ich nicke.
    »Damit du es gleich an dich nehmen kannst, habe ich es schon eingepackt und dort hingestellt.«
    »Danke«, presse ich endlich hervor.
    »Hör mal, Kafka«, sagt Oshima. Er greift nach einem der Bleistifte und dreht ihn in der Hand, wie er es immer tut. »Darf ich dich mal was fragen?«
    Ich nicke.
    »Hast du, bevor ich es dir eben gesagt habe, schon gewusst, dass Saeki-san tot ist?«
    Wieder nicke ich. »Ich glaube ja.«
    »Das dachte ich mir.« Oshima gibt einen tiefen Seufzer von sich.
    »Möchtest du einen Schluck Wasser? Ehrlich gesagt, dein Gesicht sieht aus wie eine Wüste.«
    »Ja, bitte.« Tatsächlich habe ich fürchterlichen Durst, aber es wird mir erst bewusst, als Oshima es mir sagt.
    Ich trinke das Glas Eiswasser, das er mir bringt, in einem Zug aus. Mein Kopf schmerzt. Das leere Glas stelle ich auf den Tisch.
    »Mehr?«
    Ich schüttle den Kopf.
    »Was hast du jetzt vor?«, fragt Oshima.
    »Ich fahre nach Tokyo zurück.«
    »Und was machst du in Tokyo?«
    »Als Erstes gehe ich zur Polizei und erkläre alles. Denn wenn ich das nicht tue, muss ich mich für alle Ewigkeit verstecken. Vielleicht gehe ich auch wieder zur Schule. Lust habe ich keine, aber bis zum Ende der Mittelschule besteht Schulpflicht, also bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Wenn ich die letzten paar Monate noch durchhalte, kriege ich einen Abschluss, und danach kann ich machen, was ich will.«
    »Verstehe«, sagt Oshima. Er sieht mich nachdenklich an. »Das ist bestimmt das Beste.«
    »Allmählich habe ich auch das Gefühl, dass es mir nicht mehr so viel ausmacht.«
    »Und auch wenn du abhaust, kannst du nirgendwohin.«
    »Wahrscheinlich.«
    »Anscheinend bist du gereift«, sagt er.
    Ich schüttle den Kopf. Sagen kann ich nichts.
    Oshima tippt sich mit dem Radiergummi seines Bleistiftes an die Stirn. Das Telefon beginnt zu läuten, aber er achtet nicht darauf.
    »Wir alle verlieren ständig Dinge, die uns wichtig sind«, sagt er, nachdem das Klingeln aufgehört hat. »Wichtige Gelegenheiten und Möglichkeiten, oder unwiederbringliche Gefühle. Das macht das Leben aus. Aber in unserem Kopf- oder vielleicht sogar der Kopf selbst – ist ein kleines Zimmer, in dem diese Dinge als Erinnerungen aufbewahrt bleiben. Ein Zimmer wie unsere Bibliothek. Und um über unseren genauen geistigen Zustand auf dem Laufenden zu sein, müssen wir die Karteikarten in diesem Zimmer ständig ergänzen. Wir müssen es reinigen, lüften und das Blumenwasser wechseln. Anders ausgedrückt, man
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