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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand
Autoren: Haruki Murakami
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er zu sich selbst, »jetzt fällt die Entscheidung. Sei bereit zu sterben!« Dann hob er mit aller Kraft und ächzend den Stein an. Der Stein bewegte sich nur ganz wenig. Nochmals alle Kraft zusammennehmend, riss Hoshino ihn vom Boden hoch.
    Blendende Weiße durchzuckte sein Gehirn. Seine Armmuskeln fühlten sich an wie zerfetzt, und seine Eier waren wohl längst abgefallen. Dennoch ließ er den Stein nicht los. Er dachte an Nakata. Wahrscheinlich hatte Nakata sein Leben verkürzt, um diesen Eingang zu öffnen und zu schließen. Auf jeden Fall musste er die Sache an Nakatas Stelle zu Ende bringen – die Aufgabe übernehmen, hatte Toro, die schwarze Katze, gesagt. Hoshinos Muskeln verlangten nach Versorgung mit frischem Blut. Für die Produktion dieses Blutes brauchten seine Lungen frische Luft. Aber er war nicht imstande einzuatmen. Er wusste, dass er dem Tod sehr nahe war. Schon tat sich vor ihm der Abgrund des Nichts auf. Doch noch einmal nahm der junge Mann alle Kraft zusammen und presste den Stein an sich. Der Stein kam irgendwie hoch und donnerte mit seiner anderen Seite auf den Boden, der bei diesem Aufprall erbebte, dass die Glastüren klirrten. So groß war sein Gewicht. Laut keuchend saß Hoshino auf dem Boden.
    »Gut gemacht, alter Hoshino«, sagte er etwas später zu sich selbst.
     
    Als der Stein den Eingang wieder verschlossen hatte, war es unverhofft leicht, das weiße Ding loszuwerden. Sein Ziel war ihm versperrt, und das wusste es. Es hörte auf, sich vorwärts zu bewegen, und kroch auf der Suche nach einem Versteck desorientiert in der Wohnung herum. Vielleicht wollte es in Nakatas Mund zurück, aber es hatte keine Kraft mehr für den Rückzug. Der junge Mann holte es rasch ein, schwang das Küchenbeil und hackte es in Stücke, die er in noch kleinere Stücke zerteilte. Nachdem die weißen Teile sich noch eine Weile auf dem Boden gewunden hatten, verloren sie nach und nach ihre Vitalität, bis sie sich schließlich gar nicht mehr bewegten. Sie waren tot, erstarrten und schrumpften. Der Teppich schimmerte weißlich von ihrem Schleim. Hoshino fegte die toten Teile mit der Kehrschaufel auf und schippte sie in einen Müllbeutel, den er oben zusammenband und in einem weiteren Müllsack verpackte. Nachdem er auch diesen fest verschnürt hatte, steckte er ihn in einen dicken Stoffbeutel, den er im Wandschrank fand.
    Ausgelaugt und schwer atmend kauerte der junge Mann auf dem Fußboden. Seine Hände zitterten. Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
    Erst einige Zeit später sagte er zu sich: »Hoshino, Alter, du hast’s geschafft.«
    Er war besorgt, der Hausmeister des Apartmenthauses könnte durch den Krach beim Kampf gegen das weiße Ding und den lauten Schlag, als Hoshino den Stein umgedreht hatte, aufgewacht sein und vielleicht die Polizei angerufen haben. Doch glücklicherweise war nichts dergleichen geschehen. Keine Sirene heulte, und niemand klopfte an die Tür. Wäre die Polizei in die Wohnung gekommen, hätte Hoshino in der Klemme gesessen. Er wusste, dass das zerhackte weiße Ding, das er in die Tüten gestopft hatte, nicht wieder auferstehen würde. Es hatte keinen Zufluchtsort mehr. Dennoch wollte er auf Nummer sicher gehen und es, sobald es hell wurde, am nahe gelegenen Strand verbrennen. Zu Asche. Und wenn er damit fertig war, würde er nach Nagoya zurückfahren.
    Es war schon fast vier Uhr. Bald würde es Tag werden. Zeit zum Aufbruch. Der junge Mann stopfte seine Kleidung in die Reisetasche. Die Chunichi-Dragons-Kappe und die Sonnenbrille packte er vorsichtshalber ein. Er hatte keine Lust, noch zu guter Letzt von der Polizei erwischt zu werden. Um das Feuer anzuzünden, nahm er eine Flasche Salatöl mit. Die CD mit dem »Erzherzog-Trio« fiel ihm ein, und er packte sie in die Tasche. Zum Schluss trat er an das Bett, in dem Nakata lag. Die Klimaanlage lief noch immer auf vollen Touren, und das Zimmer war eiskalt.
    »So, Nakata, alter Freund, ich mach mich auf«, sagte der junge Mann. »Tut mir leid, aber ich kann nicht ewig hier bleiben. Wenn ich am Bahnhof bin, rufe ich die Polizei an, und die veranlassen dann, dass deine Leiche abgeholt wird. Von nun an lege ich alles in die Hände unserer geliebten Freunde und Helfer. Wir werden uns nicht Wiedersehen, alter Freund, aber ich werd dich nicht vergessen. Das könnte ich auch gar nicht, selbst wenn ich es wollte.«
    Mit einem lauten Rumpeln schaltete sich die Klimaanlage ab.
    »Also Nakata, ich habe mir Folgendes gedacht«,
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