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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Autoren: Paul Moor
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aus diesem Briefwechsel werden würde und was für eine Verantwortung ich mir da ungewollt aufgebürdet hatte.
    Irgendwann im Laufe von Monaten wurde mir klar, daß diese Verantwortung wesentlich gewichtiger war als ursprünglich angenommen. Am klarsten wurde diese Entdeckung im Frühling 1968 in New York beim Dinner mit meinem ersten Analytiker und dessen Frau, auch einer Analytikerin. Am Schluß eines längeren Gesprächs über den Fall Jürgen Bartsch und über meinen Briefwechsel mit ihm blickte mich mein Gastgeber lange an, ehe er schließlich sagte: «Vielleicht bist du dir noch nicht darüber im Klaren, aber
de facto
bist du der Therapeut dieses jungen Mannes geworden.»
    Betonen möchte ich, daß ich mir niemals angemaßt habe, Jürgen Bartsch zu «behandeln», psychoanalytisch oder sonstwie; aber eine von mir naiverweise nicht vorausgesehene psychoanalytischeEntwicklung ist trotzdem nicht lange ausgeblieben: das, was Freud die Übertragung nannte. In der Übertragungssituation erlebt der Analysand eine unendlich breite Skala von Emotionen, die zwischen Haß und Liebe pendeln. Mehr als einmal seit 1968 bekam ich mehr oder minder deutlich vermittelt, ich hätte mich wohl in Jürgen «verliebt». Daß ich ihn geliebt habe, verneine ich nicht: Er war immerhin mein Spiegelbild, in dem ich sah, wie ich unter Umständen sehr leicht selber hätte werden können. Als ein solches Alter ego liebte ich Jürgen und hatte unendlich Mitleid mit ihm. Lieben konnte ich ihn, ja. Aber verlieben in ihn? Nein.
    Es gibt viele körperliche Krankheiten mit schrecklichen, ekelerregenden Symptomen, aber gewissenhafte Ärzte und Krankenschwestern überwinden ihre spontane und verständliche Abscheu, um solchen Patienten zu helfen. Bei psychisch Kranken gibt es manchmal genauso schreckliche und ekelerregende Symptome – zum Beispiel Kindesmord; aber um solch einem Menschen helfen zu können, muß man die wissenschaftliche Grundhaltung beibehalten, dann kann man zwischen Tat und Täter differenzieren und seine Abscheu gegen die Tat überwinden, um den Täter wirklich zu verstehen und – vielleicht – ihm zu helfen.
     
    Die Korrespondenz zwischen Jürgen Bartsch und mir dauerte insgesamt etwas mehr als neun Jahre. Seinen letzten Brief an mich hat er am 21.   April 1976 geschrieben; eine Woche später, neunundzwanzig Jahre alt, ist er an Herzversagen gestorben.
    Der Revisionsprozeß gegen ihn ging am 6.   April 1971 in Düsseldorf zu Ende. Einige Monate vorher hatte das
ZEITmagazin
die ersten Auszüge aus Briefen von Jürgen Bartsch an mich veröffentlicht. Bis dahin hatte er schon fast tausend nachhakende, heikle, psychoanalytisch orientierte Fragen von mir ausführlich beantwortet; auf dem Papier hatte ich ihn besser – sogar intimer – kennengelernt als manchen persönlichen Freund.
    Bald nach dem Revisionsurteil habe ich ein Manuskript mit dem Titel
Das Selbstporträt des Jürgen Bartsch
geschrieben. Als das Taschenbuch erschien, hatte ich insgesamt nur drei halbeStunden mit Jürgen verbringen dürfen, und zwar in Gegenwart eines Justizbeamten.
    Nach dem Urteil lief die Korrespondenz selbstverständlich weiter. Solange Jürgen Bartsch im Düsseldorfer Untersuchungsgefängnis saß, wurde er einmal in der Woche von einer mutigen Ärztin, Margret Suhr-Effing, psychotherapeutisch behandelt. Sie und ihr Mann (auch Arzt) und ich haben uns kennengelernt und spontan einen freundschaftlichen Kontakt zueinander gefunden. Bald danach hat Jürgen Frau Suhr und mich von unserer beruflichen Schweigepflicht entbunden, damit wir enger zusammenarbeiten konnten. Irgendwann damals hat ihr Jürgen gesagt, sie sollte mir ausrichten, daß ich für ihn der wichtigste Mensch geworden sei und sie der zweitwichtigste.
    Ein erfahrener Analytiker hätte wahrscheinlich mit dieser Entwicklung gerechnet, während ich damals mit Überraschung reagierte. Mir wurde klar, daß dies kein einfacher Austausch von freundlichen Briefen mehr war, sondern eine äußerst ernst zu nehmende persönliche Verantwortung, die im Leben eines so kranken Menschen eine entscheidende Bedeutung bekommen konnte. Jürgen Bartsch ist 1946, ich bin 1924 geboren; seine Briefe bezeugen, daß er mich nicht nur als Freund, sondern auch als Vaterfigur betrachtete. Es dürfte keinen überraschen, wenn ich ihn hier nicht Bartsch oder Jürgen Bartsch, sondern Jürgen nenne.
    Am 15.   November 1972 – fast sechseinhalb Jahre nach seiner Verhaftung und neunzehn Monate nach dem endgültigen
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