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Josepsson, Aevar Örn

Josepsson, Aevar Örn

Titel: Josepsson, Aevar Örn
Autoren: Wer ohne Sünde ist
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ihrem Dornröschenschlaf erwachte und irgendwo in dem Wrack, das sie geworden war, noch ihr altes Selbst wiederfand, und dass sie weiter den Mut besessen hatte, sich gegen ihn aufzulehnen und ihm den Stuhl vor die Tür zu setzen.
    Zwanzig Jahre, zwanzig gute Jahre waren vergeudet, weil sie es einem totalen Versager gestattet hatte, sie ihr zu stehlen. Sie dachte an die ersten Wochen, nachdem sie ihn an die Luft gesetzt hatte. Die Psychologin und die Damen in der Frauenselbsthilfe gaben sich zwar alle Mühe, die ganze Schuld auf Ólafur abzuschieben, aber sie gab sich mit dieser Erklärung nicht ganz zufrieden. Sie war nicht so erzogen worden, immer den anderen, nur nicht sich selber die Schuld am eigenen Missgeschick zu geben. Und an der eigenen Charakterschwäche. Im tiefsten Inneren war sie sich vollkommen sicher und ließ sich auch nicht davon abbringen, dass auch sie in irgendeiner Form Schuld hatte, auch wenn sie inzwischen nachgegeben hatte und dazu übergegangen war, diese mehr oder weniger auf das Konto von Ólafur zu schreiben.
    Nein, sie war gegenüber Ólafur viel zu lange viel zu nachsichtig gewesen. Fehler waren aber dazu da, dass man aus ihnen lernte, und Viðar sollte nicht damit durchkommen, so mit ihr zu reden. Sie herumzukommandieren wie ein Dienstmädchen.
    Nach dem Gottesdienst, dachte sie, während sie die Haustür hinter sich schloss, ich rede nach dem Gottesdienst mit ihm. Und blase ihm den Marsch, falls nötig …
    In einem aber hatte Viðar selbstverständlich Recht. Es musste etwas in Bezug auf Ólafur unternommen werden, und zwar so bald wie möglich.
    *
    Ólafur überprüfte ein Kabel nach dem anderen und vergewisserte sich, dass sie samt und sonders richtig angeschlossen waren, dass alle Tasteneinstellungen mit den Bedürfnissen des Meisters übereinstimmten. Danach ging er in den Saal zurück und setzte sich in der dritten Reihe ganz links hin. Das war seit seinem ersten Besuch im Tempel der WAHRHEIT sein Platz gewesen, und hier fühlte er sich am wohlsten. Die Atmosphäre im Saal war wie elektrisiert, und das Raunen steigerte sich, je mehr Menschen sich einfanden. Es lag auf der Hand, dass die Gemeinde große Erwartungen hegte. Und sie wurde auch nicht enttäuscht. Der Meister war an diesem Abend ganz besonders in Fahrt, so als hätte er zur Feier des Tages noch eine Extra-Inspiration von Gott bekommen. Er legte seiner Predigt eine Textstelle aus dem zweiten Buch Mose zugrunde, und Ólafur freute sich unwillkürlich darüber, seinem Gefühl und nicht Haushaltstraditionen vergangener Zeiten gefolgt zu sein, indem er das geräucherte Lammfleisch und nicht das Kassler gekauft hatte.
    »Und auf diese Weise sicherte der Herr die Zukunft des Reiches Israel bis in alle Ewigkeit«, erklärte der Meister, »bis zur Wiederrichtung von Jerusalem und Christi Wiederkehr, von der wir wissen, dass sie nah bevorsteht. Denn, meine lieben Brüder und Schwestern, die Zeichen dafür sehen wir allenthalben am Himmel. Seht den tobenden Sturm, der Bäume und Menschen fällt, seht die Gottlosen, die nach ihrer eigenen Vernichtung schreien, ja, seht das Gift, das an jedem Tag durch isländische Seelen und Körper flutet – und-nun-alle-miteinander: Ameen!«
    Amen-und Halleluja-Rufe gingen Ólafur wie von selbst über die Lippen, und sie kamen aus den Tiefen seiner Seele. Anderthalb Stunden nachdem er das Podium betreten hatte, bat der Meister um den Segen Gottes für alle Anwesenden und wankte von der Bühne, der Heilige Geist hatte ihn völlig ausgelaugt.
    Ólafur brauchte einige Minuten, um sich wieder zurechtzufinden. Danach begab er sich nach vorn in die Eingangshalle und trank Kaffee mit denen, die noch nicht gegangen waren. Die Gespräche waren lebhafter als gewöhnlich, und er lauschte interessiert und wohlwollend einer Gruppe von jungen Leuten, die darüber diskutierten, wie man sich gegen das hemmungslose Agitieren von Irrgläubigen zur Wehr setzen könnte, die mit ihren Lügen über die Leiden von palästinensischen Ungläubigen und ihren Verleumdungen in Bezug auf das Heilige Land anscheinend ungehinderten Zugang zu den Medien hatten. Er öffnete den Mund, aber nur, um ihn gleich wieder zu schließen. Aus Erfahrung wusste er, dass die jungen Leute wenig Wert auf seine Diskussionsbeiträge legten. Als der letzte Versammlungsgast gegangen war, schloss Ólafur die Tür ab und schlenderte zurück in den Saal, um noch das ein oder andere in Ordnung zu bringen, bevor er seine Windjacke anzog.
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