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Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Titel: Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
Autoren: Thomas Mann
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Zeiten späterer Lebensfrühe, vor aller Großhirnentfaltung, in verschiedenen zoologischen Modetrachten, amphibischen und reptilischen, auf Erden sein Wesen getrieben habe; zweitens aber wenn man erwägt, welche unabsehbaren Zeitstrecken erforderlich gewesen sein müssen, damit aus dem halbaufrechten, traumwandlerischen und von einer Art Vor-Vernunft durchzuckten Beuteltiertypus mit verwachsenen Fingern, welchen der Mensch vor dem Erscheinen Noah-Utnapischtims, des Hochgescheiten, verkörpert haben muß, der Erfinder von Pfeil und Bogen, der Nutznießer des Feuers, der Meteoreisenschmied, der Züchter des Korns, der Haustiere und des Weines wurde – mit einem Worte das altkluge, kunstfertige und in jeder entscheidenden Hinsicht moderne Wesen, als das der Mensch uns beim ersten Morgengrauen der Geschichte bereits entgegentritt. Ein Tempelweiser zu Sais erläuterte dem Solon die griechische Überlieferung vom Phaethon durch das menschliche Erlebnis einer Abweichung im Laufe der Körper, die sich um die Erde im Himmelsraume bewegen und die eine verheerende Feuersbrunst auf Erden hervorgerufen hätten. Und wirklich wird immer gewisser, daß des Menschen Traumerinnerung, formlos, aber immer aufs neue sagenhaft nachgeformt, hinaufreicht bis zu Katastrophen ungeheueren Alters, deren Überlieferung, gespeist durch spätere und kleinere Vorkommnisse ähnlicher Art, von verschiedenen Völkern bei sich zu Hause angesiedelt wurde und so jene Kulissenbildung bewirkte, die den Zeitenwanderer lockt und reizt.
    Die Tafelverse, die man dem Joseph vorgesagt und die er sehr gut behalten hatte, kündeten unter anderm die Geschichte der großen Flut. Er würde von dieser Geschichte gewußt haben, auch wenn sie ihm nicht in babylonischer Sprache und Gestaltung zugekommen wäre; denn sie war lebendig in seinem Westlande überhaupt und unter den Seinen im besonderen, wenn auch in etwas anderer Form und mit anderen Einzelheiten, als man sie im Stromlande wahrhaben wollte. Gerade in seiner Jugendzeit war sie im Begriffe, sich bei ihm zu Hause in einer von der östlichen abweichenden Sondergestalt zu befestigen, und Joseph wußte wohl, wie es zugegangen war damals, als alles Fleisch, die Tiere nicht ausgenommen, seinen Weg in unbeschreiblicher Weise verderbt hatte, ja selbst die Erde Hurerei trieb und Schwindelhafer hervorbrachte, wenn man Weizen säte, – und dies alles trotz der Warnungen Noahs, so daß der Herr und Schöpfer, der sogar seine Engel in diese Greuel verwickelt sehen mußte, es schließlich, nach einer letzten Geduldsfrist von hundertzwanzig Jahren, nicht länger verantworten und ertragen konnte und zu seinem Schmerz das Schwemmgericht hatte walten lassen müssen. Und wie er in seiner gewaltigen Gutmütigkeit (welche die Engel keineswegs teilten) dem Leben ein Hintertürchen, um zu entwischen, gelassen hatte in Gestalt des verpichten Kastens, den Noah mit dem Getiere bestieg! Joseph wußte es auch, und er kannte den Tag, an dem die Geschöpfe den Kasten betreten: der zehnte des Monats Cheschwan war es gewesen, und am siebzehnten war die Flut ausgebrochen, zur Zeit der Frühjahrsschmelze, wenn der Siriusstern am Tage aufgeht und die Wasserbrunnen zu schwellen anfangen. An diesem Tage also, – Joseph hatte das Datum vom alten Eliezer. Wie oft aber war dieser Jahrestag seitdem wohl wiedergekehrt? Das bedachte er nicht, das bedachte auch der alte Eliezer nicht, und hier beginnen die Zusammenziehungen, Verwechselungen und Durchblickstäuschungen, welche die Überlieferung beherrschen.
    Der Himmel weiß, wann jener ertränkende Übergriff des zu Unregelmäßigkeit und Gewaltsamkeit immer geneigten Euphratstromes oder auch jener Einbruch des Persischen Meerbusens unter Wirbelsturm und Erdbeben in das weite Land sich ereignet hatte, der die Flut-Überlieferung nicht etwa gestiftet, aber ihr zum letzten Male Nahrung zugeführt, sie mit entsetzlicher Wirklichkeitsanschauung belebt hatte und nachkommenden Geschlechtern nun als die Sintflut galt. Vielleicht war der jüngste Schreckenszwischenfall dieser Art wirklich nicht lange her, und je näher er lag, desto stärkeren Reiz gewinnt die Frage, ob und wie es dem Geschlechte, das ihn am eigenen Leibe erlebte, gelang, diese gegenwärtige Heimsuchung mit dem Gegenstande einer Überlieferung, mit der Sintflut zu verwechseln. Dies geschah, und daß es geschah, gibt keinerlei Anlaß zur Verwunderung und geistigen Geringschätzung. Das Erlebnis bestand weniger darin, daß etwas Vergangenes
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