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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst
Autoren: Robert Seethaler
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bleischwer durch die langen Gänge, und die Tage kamen gar nicht mehr vom Fleck. Manche der Heimbewohner versuchten
dem Stillstand zu entkommen und schlurften stundenlang im Kreis herum. Die meisten aber saßen einfach da, hörten Musik aus kleinen Radios, dösten oder schauten mit sehnsuchtsvoll
geröteten Augen in Richtung gläserner Eingangstür.
    Max’ Opa hing meistens schief in seinem Rollstuhl im großen Gesellschaftsraum, hatte eine karierte Decke über den Knien und eine fadenscheinige Wollmütze auf dem Kopf. Er
sprach selten. Während all unserer Besuche nur ein paar wenige, kaum verständliche Worte. Meistens hing er einfach nur da und röchelte leise. Es war mir ein Rätsel, was Max an
diesen Besuchen fand. Doch er ließ sich nicht davon abbringen. Durch nichts und niemanden. Mindestens zweimal im Monat hatten wir im Marienmond zu sitzen und dem Opa beim Röcheln
zuzuhören.
    Eines Tages, als wir nach der Schule ankamen, war das Heim geschlossen. Wir spähten durch die Eingangstür hinein. Der Eingangsbereich und die Flure dahinter lagen da wie ausgestorben.
Die Alten waren verschwunden, mitsamt Personal. Manchmal organisierte die Heimleitung Ausflüge, kleine Tagesreisen, kollektive Bustrips mit Produktpräsentation und
Krankenschwesternbegleitung.
    Wir wollten uns schon wieder auf den Weg machen, als Max mich auf eines der Kellerfenster aufmerksam machte. Es stand offen. Wir schauten uns um. Kein Mensch zu sehen. Da blieb uns gar nichts
anderes übrig.
    Wir krochen durch den Fensterspalt ins Innere. Über ein paar gestapelte Kisten gelangten wir auf den Kellerboden. Hier drinnen war es still und kühl. Durch die staubigen Fenster drang
kaum Licht herein. Die Luft war feucht, und es roch modrig. Alle Geräusche klangen stumpf, ohne Widerhall, wurden förmlich aufgesogen von den feuchten Wänden. In einer der Kisten
knackte es leise. Diese Kisten waren lang und schmal, aus hellem Holz, vernagelt und verschraubt.
    Wieder knackte es.
    Und in diesem Moment war mir alles klar. Wir hatten eine grausige Entdeckung gemacht – das Endlager der Altersheimbewohner! Hier lagen die Alten, feinsäuberlich gestapelt und
nach Todesdatum geordnet. Hier wurden sie entsorgt, hier fand der teuflische Plan der Heimleitung seine schreckliche Vollendung. Und wir sollten die nächsten sein! Das Fenster hatte nicht
einfach so zufällig offen gestanden, nur weil irgendein verblödeter Hausmeister vergessen hatte, es zu schließen. Nein, dieses offene Fenster war eine Falle, in die wir
Dummköpfe nichts ahnend hineingetappt waren!
    In panischer Angst fing ich an zu klettern. Ich bestieg die Kisten, die Särge der armen Alten, zog mich an ihnen hoch, dachte mit Schaudern an die morschen Knochen, an das verwesende
Fleisch, an die graue, zerfallende Haut in den Kisten unter mir.
    Ich kroch hoch, so schnell ich konnte, von einer Kiste zur nächsten. Plötzlich ein lautes Krachen. Unter meinen Füßen splitterte das Holz, eine Kiste kippte, dann noch eine,
und noch eine, bis schließlich der ganze Stapel polternd in sich zusammenbrach.
    Langsam senkte sich der Staub.
    Ich saß auf dem Boden, um mich herum lagen die Kisten verstreut, ein paar waren aufgeplatzt, die Deckel verschoben, die Brettchen zerborsten. Zum Vorschein kam Bettwäsche und
Geschirr. Muffige, blassgelbe Bettwäsche und stumpfes, abgeschlagenes Geschirr.
    An der Wand stand Max und schaute ausdruckslos auf mich herab. Ich räusperte mich, hustete übertrieben laut und klopfte mir möglichst gelangweilt den Staub von der Hose. Max
drehte sich wortlos um und öffnete eine Metalltür, die ich bis dahin noch gar nicht bemerkt hatte. Der Weg war frei.
    Wir liefen einen engen Kellergang entlang. Heizkessel, Rohre, Gerümpel, bröckeliger Putz, Spinnweben, hie und da ein verstaubtes Fensterchen. Über eine steile Treppe ging es hoch.
Die Tür war nicht verschlossen.
    Im Heim war es noch stiller, noch bleierner, noch lebloser als sonst. Die Gänge waren niedrig und lang, Blechleuchten an der Decke, gelbliche Wände, graublauer Linoleumboden, kleine
Tische mit gehäkelten Deckchen und Plastikblumengestecken, ein paar Stühle, ein paar staubige Gummipflanzen, ein paar Ständer mit Broschüren aller Art: Was tun bei
Herzinfarkt , Wohin bei Inkontinenz und so weiter. Überall gingen hellgrüne Türen ab, an denen selbst gebastelte Namensschilder angebracht waren Fritz, Leopold, Helga, Traudel . Die Tür von Helmut stand offen. Jeder einzelne Buchstabe auf
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