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Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Dietmar Pieper , Annette Großbongardt
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Humboldt-Universität. Später allerdings haben zahllose urchristliche und christliche Quellen seine Figur mit bestimmten Vorstellungen überformt und retrospektiv gedeutet.
    Um das Jahr 28 war nichts mehr so wie einst, denn im bäuerlichen Galiläa war eine Art antiker Kapitalismus eingezogen. Profitstreben und Gewinnmaximierung beherrschten den Alltag der Bauern, Fischer und Handwerker, deren wichtigste Werte Familie, Solidarität und Gemeinsinn waren. Konnte so etwas auf Dauer gutgehen? Der erzwungene Strukturwandel Galiläas lag in der römischen Herrschaftsstruktur und der Pyramide streng geordneter Hierarchie begründet, innerhalb derer ein Wettbewerb um Macht durch Loyalität gefördert und gefordert wurde. Rom lenkte aus der Ferne, indem es die lokalen Führer ernannte, die im Vasallenverhältnis standen und festgesetzte Tribute zu entrichten hatten – Geld, das sie als Steuern von ihren Untertanen eintrieben. Die Last der direkten und indirekten Abgaben muss erdrückend gewesen sein: Grundertragsteuer, Handel- und Gewerbesteuer, eine Kopfsteuer, die auch Vieh und Sklaven mitzählte, dazu Tempelsteuer, Wege- und Brückenzoll. Der Umfang des damaligen Steueraufkommens wird auf bis zu 50 Prozent des Sozialprodukts geschätzt. Damit nicht genug, die Abgaben wurden unerbittlich eingetrieben, Gnade der Administratoren und Zöllner gab es selten. Die meist vielköpfigen Familien waren gezwungen, immer mehr zu produzieren und zu arbeiten, um ihrer Steuerschuld nachkommen zu können. Ihr Einkommen war gering, sie lebten am Existenzminimum. Kamen Missernten hinzu, geriet man rasch in die Schuldenfalle, aus der es kein Entkommen gab. Wer dem Maximierungsprinzip nicht mehr gewachsen war, wurde Tagelöhner, zog von hier nach da, ohne jede soziale Sicherheit. »Der Teufelskreis der Verarmung war vorgezeichnet«, sagt Martin Ebner, Professor für das Neue Testament an der Universität Münster. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Großgrundbesitzern und Kleinbauern wuchs, die Schere der Ungleichheit weitete sich, und die Verdrängung des traditionellen Tauschhandels durch die neue Geldwirtschaft produzierte zunehmend mehr Verlierer.
    Die römischen Herrscher hatten ihre Politik der Landpacht durchgesetzt: Nicht das Land an sich war wertvoll, sondern der Gewinn, den es brachte. Das war ein klarer Bruch mit der Tradition. Wahrscheinlich mehr als 90 Prozent der Galiläer betrieben Landwirtschaft; sicher hingen sie an ihrem Land, vielleicht mehr als am Gewinn. Jedenfalls musste man, um zu überleben, das Wachstum jetzt stetig steigern und stets mehr Oliven, Getreide, Wein und Fisch exportieren. Zur Jesuszeit, das haben Bodenuntersuchungen nachgewiesen, waren 97 Prozent des bebaubaren Landes agrarische Nutzungsfläche, die Produktionssteigerung war also enorm. Fang, Weiterverarbeitung und Export des Buntbarschs aus dem See Genezareth wurden zu einem der wichtigsten Industriezweige Galiläas und spülten Geld in die Kassen des Landesherrn, der am Gewinn persönlich beteiligt war.
    Die Folge des wirtschaftlichen Drucks war eine Dreischichtengesellschaft: oben die Besitzenden, in der Mitte die von ihnen abhängigen Dienstleister wie Handwerker, unten die Tagelöhner, Hirten und Bettler, die Armen, Deklassierten und Ausgeschlossenen. Wäre eine bessere Brutstätte für Gewalt, Protest und Aufstand vorstellbar? Um 28 aber war hier von einer Rebellion nichts in Sicht, sozialrevolutionäre Aufrührer gab es nicht. Auf den ersten Blick war Galiläa trotz der Verelendung immer größerer Bevölkerungsteile ein relativ spannungsarmes Land. Nicht einmal römische Soldaten waren in Galiläa stationiert. Und dann wurde im Jordan ein weitgehend unbekannter Mann aus Nazareth getauft, mit dem eine neue Zeit begann.
    Jesu Taufe durch Johannes, die um das Jahr 28 stattfand, ist der erste historisch belastbare Auftritt des Nazareners in der Weltgeschichte. Der charismatische Asket und radikale Bußprediger Johannes, der in seinen Reden den Zorn Gottes verkündete, muss einen immensen Einfluss auf Jesus ausgeübt haben. Von Johannes übernimmt Jesus zum einen die Idee der Umkehr im Hier und Jetzt, zum anderen das apokalyptische Denken der entscheidenden Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen Hell und Dunkel, Gott und Satan. Und dann muss Jesus entweder eine umstürzende Erkenntnis oder ein Initiationserlebnis gehabt haben. Was genau geschehen ist, ist nicht bekannt. Bei Lukas heißt es geheimnisvoll: »Er sprach aber zu
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