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Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Dietmar Pieper , Annette Großbongardt
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ihnen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.« War das eine Vision? Eine Halluzination? Oder war der Satan, wie Martin Ebner vorschlägt, ein Meteor, den Jesus beobachtet hatte? Mancher Jesusforscher sieht in dieser Satans-Passage den inneren Glutkern der beginnenden Mission. Jens Schröter tut das nicht. »Ich würde eher sagen«, meint der Berliner Wissenschaftler, »dass Jesus zu der Überzeugung gelangt ist, nicht einfach nur ein Jünger von Johannes dem Täufer zu sein, sondern von Gott zu einer besonderen Aufgabe ausersehen zu sein.«
    So sehr die geistige Welt der Judäer und Galiläer um 28 von Heilserwartungen und Heilsversprechen geprägt war, so desolat war seit langem die soziale, politische und gesellschaftliche Situation des Judentums im alten Palästina: das Volk in Parteien, Gruppen und Richtungen zerfallen; die Verheißung Gottes von einem Zusammenleben im Königreich Israel nicht erfüllt; der ersehnte Messias und die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters nicht in Sicht. Woran oder an wem lag das? An Rom? An Gott? An ihnen, den Juden, selbst?
    Als Einzelner hatte man zur Erklärung dieser Malaise zwei Möglichkeiten: Entweder man klagte Gott an, sein Versprechen nicht eingelöst zu haben, was für einen gottesfürchtigen Juden niemals in Frage gekommen wäre. Oder, und das war weitaus wahrscheinlicher, man beschuldigte sich selbst und das eigene unfromme, entfremdete, materialistisch dominierte Leben und war empfänglich für die Idee der Umkehr. Israels Gottesverhältnis war zu jener Zeit tief gestört, das Volk zweifelte daran, erwählt zu sein. Was tun? Von einer erneuten Zuwendung zu Gott erhoffte man sich dessen erneute Zuwendung zum Volk Israels. Die Hoffnung, Gott möge die Fremdherrschaft der Römer und die Zerstreuung der Juden beenden, hatte ernorme Erwartungen geschaffen, die man, wie im Judentum seit jeher geübt, auf den Messias, den Gesalbten, den von Gott zur Errettung Geschickten projizierte – auf dass dieser, wie einst Mose und zuletzt, tausend Jahre zuvor, König David, Israel als das von Gott erwählte Reich führe. Welche spirituellen Sehnsüchte – und welch materialistischer Alltag zugleich.
    Wenn ein derart metaphysisches Vakuum entsteht, sind Propheten selten weit entfernt. Also bestellten, mit je eigenen Ideologien und Programmen, die unterschiedlichsten Bewegungen, philosophischen Schulen und politischen Interessengruppen das Feld des Seelenheils und der Erlösung in den zwanziger Jahren dieses ersten Jahrhunderts. Zuhauf zogen Prediger und Apokalyptiker über die Hügel und durch die Wüsten Palästinas, traten als Wundertäter und Prediger auf und erhoben den Anspruch, der erwartete Messias zu sein und das Volk zu führen. Einer von ihnen verzichtete augenfällig auf Hass, Agitation und aggressive Untertöne. Er war versöhnungsbereit und begann sein öffentliches Wirken just in dem Moment, als Johannes der Täufer auf Befehl des Antipas wegen der politischen Provokation seiner Predigten verhaftet und getötet wurde. Die Bewegung, die in seinem Namen entstand, fand rasch Anhänger und immer mehr Berufene.
    Der evangelische Neutestamentler Gerd Theißen hat das Sozialverhalten, die innere Struktur und die treibenden Kräfte dieser »Jesusbewegung« in Wechselwirkung mit der umgebenden jüdisch-palästinensischen Gesellschaft mustergültig herausgearbeitet. Primär habe Jesus nicht Ortsgemeinden gegründet, so Theißen, sondern eine Bewegung vagabundierender Charismatiker, wandernder Apostel, Propheten und Jünger, die von Ort zu Ort zogen und dabei auf materielle Unterstützung der jeweiligen Gemeinden durchaus angewiesen waren. Es war eine innerjüdische Erneuerungsbewegung, die der Menschensohn da, fern der großen Städte im Hinterland, ins Leben rief, und die anfangs mit vielen anderen innerjüdischen Reformbewegungen in Konkurrenz stand. Die Jünger der Jesusbewegung, die bewusst auf Recht, Schutz und Mittel zur Selbstverteidigung verzichteten, lebten von der Unterstützung durch Sympathisanten, denen sie als Gegenleistung Predigt und (manchmal) Heilung zu bieten hatten – eine Investition ins eigene Heil, die sich erst nach dem großen Gericht am Tag des Herrn auszahlen würde. Die Bedürfnisfreiheit der Jesusbewegung war gewollt. Wer berufen war, verließ Haus, Hof und Familie, entsagte allem Besitz und wanderte als Prophet oder Lehrer umher. Gezielt wurde die eigene soziale Entwurzelung betrieben, man band sich an keinen Ort mehr und heiratete
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