Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch

Titel: Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
Autoren: Dietmar Pieper , Annette Großbongardt
Vom Netzwerk:
nicht. Deshalb, weil er der Familie und der traditionellen Gemeinschaft den Rücken kehrte, wurde der Prophet in seiner eigenen Heimatstadt verachtet.
    »Jesus und seine Zeitgenossen«, befindet Wolfgang Stegemann, »lebten in nichtindividualistischen Gesellschaften, in denen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ebenso wie die Zugehörigkeit zu bestimmten Familien, Clans und Ethnien von grundlegender Bedeutung für die Möglichkeit der Partizipation an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gütern waren.« Stegemann, der als Professor für Neues Testament vor allem die Sozialgeschichte des Urchristentums erforscht hat, weist darauf hin, dass Jesus in eine Mittelmeerwelt hineingeboren wurde, deren soziale Beziehungen vom Wettstreit der Männer um Ehre gekennzeichnet waren. Obwohl Jesus dieser Kultur entstammte, hielt er sich nicht mehr an ihren Kodex, und obwohl Jesus auf der Basis der jüdischen Tradition stand, brach er mit ihr. Das war neu und traf in den Jahren vor 30 n. Chr. auf ein offenbar großes Bedürfnis: Profitstreben, Materialismus und mangelnde Frömmigkeit waren so gewachsen, dass die Fischer und Bauern von Obergaliläa sich nach der Erneuerung eines großen Versprechens sehnten: der Ankunft des Messias.
    Was aber unterschied diesen einen von all den anderen Charismatikern seiner Zeit im mediterran geprägten Kulturraum Palästina? Warum sahen seine Anhänger in ihm den Offenbarer, den Anführer, den Leitstern? Was hatte er, was die anderen Wanderer nicht hatten? Wohl die Kraft der Anmaßung. Eine radikale Selbstgewissheit. Die Unerbittlichkeit eines Entweder-Oder. »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich«, zitiert ihn die nichtkanonische »Logienquelle Q«, die als Vorstufe der vier Evangelien gilt und die Reden und Aussprüche von Jesus dokumentieren soll. Unter all jenen, die sich ebenso im Einzugsbereich von Messiaserwartung, Heilshoffnung, Ehre, Schande und Scham tummelten, trat nun jemand in der kompromisslosesten Art und Weise auf, mit scheinbar unbeirrter Selbstsicherheit und unbeirrbarem Sendungsbewusstsein, und beanspruchte, die Vollmacht Gottes zu besitzen. So viel Hybris irritierte und verstörte – hier sprach ja doch ein Mensch!
    Damit geschah in Galiläa, Samaria und Judäa etwas bis dahin ganz und gar Unerhörtes, Neues. Dass da einer aus dem Nichts kam und behauptete, das so lang ersehnte Königreich Gottes breche jetzt, durch ihn, mit ihm, an. »Von Jesus muss auf jeden Fall eine große Faszination ausgegangen sein, die die Menschen in seinen Bann zog«, meint Jens Schröter.
    Was Jesus sagte, war keineswegs nur an eine Ortsgemeinde oder Region gerichtet, nein, es war an ganz Israel adressiert. Was er sagte, sagte er mit Blick auf die Apokalypse, das Jüngste Gericht, das aber nicht die Vernichtung der gegenwärtigen Welt im Sinn hatte, sondern auf das zukünftige Heil Israels zielte. Jesus tat etwas völlig Unerwartetes, Verblüffendes: Er bezog alle mit ein in dieses neue Israel, nicht nur die Juden, sondern eben auch und gerade die Heiden; nicht nur die Deklassierten, sondern eben und gerade auch die Sünder, die Dirnen und Zöllner, all jene also, die den orthodoxen Juden als unrein galten und nach Jesu neuer Lehre nicht durch rituelle Waschungen rein wurden, sondern nur durch den Glauben. Das war das Faszinierende: dass sich da einer in gleicher Weise allen Menschen zuwendet – im Bewusstsein, dass die entscheidende Wende zum Heil bereits begonnen hat, und zwar jetzt, hier, durch ihn, mit ihm. Wer mit ihm war, der war in der Umkehr, in der Wende, im Heil, der war im Königreich Gottes.
    Eine Theorie, ein System hat Jesus nie entwickelt. Sein Wirken war eher ethisch als politisch, seine Wirkung eher subtil als plakativ. Er strebte eine Gesellschaft der Gleichen an, in der nicht alle gleich viel oder gleich wenig hatten, sondern in der alle zugleich die Gemeinschaft mit Gott eingingen. In dieser Königsherrschaft hatten hierarchische Machtverhältnisse und Abhängigkeiten keinen Platz. Doch weder war das ein soziales noch ein politisches Reformprogramm. Statt politische Agitation zu üben, gab er Verhaltensregeln aus und formulierte Prinzipien eines neuen Ethos: des Ethos der Gemeinschaft. Den Arbeitern im Weinberg, die am Abend murrten, dass diejenigen, die nur eine Stunde gearbeitet hätten, gleich viel Lohn bekämen wie diejenigen, die die Last eines zwölfstündigen Tages trügen, sagt er, wie es bei Matthäus heißt: »Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher