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Jenseits von Uedem

Jenseits von Uedem

Titel: Jenseits von Uedem
Autoren: Hiltrud Leenders , Michael Bay , Artur Leenders
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über seinen Hausaufgaben. Er war vielleicht zehn oder elf und das, was Toppe »ein ernstes Kind« nannte. Vermutlich war das nicht weiter verwunderlich bei der Mutter, die dicht an ihm klebte und Toppe mit argwöhnischen Blicken traktierte. Sie hatte ein blankgeschrubbtes BDM-Gesicht, ihr dünnes, helles Haar im Nacken zusammengebunden, und sie steckte in grauen, buffigen Hosen und einem ausgeleierten Nickipullover. Toppe wunderte sich still, daß man so was immer noch kaufen konnte.
    »Das finde ich aber überhaupt nicht gut, daß Sie ein kleines Kind damit behelligen«, nölte sie. »Das kann für den Kai sehr schädlich sein, wenn er an das schreckliche Ereignis erinnert wird.«
    »Ist nicht schlimm, Mutti«, wich Kai der streichelnden Hand auf seinem Kopf aus.
    Der Junge schilderte den Ablauf der Messe im Prinzip genauso wie der Küster. »Pfarrer Heidkamp hat die Hostien verteilt, dann hat er den Wein getrunken und den Kelch abgestellt. Auf einmal hat er ein ganz komisches Gesicht gemacht und ist umgefallen. Und dann kam so ein Zeug aus seinem Mund.«
    »Genug!« fuhr die Mutter dazwischen. »Das Kind muß wieder zur Ruhe kommen.«
    »Nur eine Frage noch: war an dem Tag vielleicht jemand in der Kirche, den du nicht kanntest, Kai, oder jemand, der sonst nie kommt?«
    Der Junge überlegte gründlich.
    »Nein«, sagte er dann überzeugt. »Da waren nur die, die auch sonst da sind.«

    Der Küster war dabei, welke Blumen aus der Bodenvase am Altar auszusortieren.
    »Wer bereitet eigentlich den Wein und die Hostien für die Messe vor?«
    »Der Lektor und ich.«
    »Und wo bewahren Sie den Meßwein auf?«
    »Im Schrank in der Sakristei. Soll ich es Ihnen zeigen?«
    Er nahm Toppe mit. Auf dem obersten Schrankbrett standen vier volle verkorkte Flaschen Moselwein und eine angebrochene, die noch zu einem knappen Viertel gefüllt war.
    »Das ist aber nicht zufällig die Flasche vom Karnevalssonntag?«
    »Nein, die war leer.«
    »Haben Sie den Wein damals auch aus einer angebrochenen Flasche genommen?«
    »Mal überlegen . ja, es war der Rest aus einer Flasche.«
    Toppe spürte ein Kribbeln auf der ganzen Kopfhaut. »Ist die Außentür hier normalerweise abgeschlossen?«
    »Ja, natürlich. Bloß nicht während der Messen.«
    »War denn am Karnevalssamstag noch Abendmesse?«
    »Ja, es waren aber nur sechs Leute da.«
    »Was machen Sie mit den leeren Weinflaschen?«
    »Die kommen in die Kiste für Altglas hier unterm Tisch und werden dann alle vier Wochen abgeholt.«
    »Wann ist die nächste Leerung?«
    »Morgen.«

29
    Es kam Toppe unerhört lange vor, bis van Gemmern eintraf. Nach kurzer Zeit schon war ihm und dem Küster der Gesprächsstoff ausgegangen; ein paar Minuten hatten sie noch mit höflichen Floskeln überbrückt, dann hatte sich Gottfried Bäcker wieder an seine Arbeit gemacht.
    Toppe fühlte sich ziemlich blöde, wie er da auf der Tischkante saß und die Flaschen im Auge behielt.
    Außerdem merkte er, wie ihm langsam die Füße abstarben. In der Sakristei gab es keine Heizung. Er bewegte die steifen Finger, rieb die Handflächen gegeneinander. Der linke Zeigefinger war bis zum Mittelglied schon ganz weiß. Vermutlich wurde es Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören ...
    Van Gemmern kam durch die Außentür und blieb einen Moment blinzelnd stehen, bis sich seine Augen an das Schummerlicht gewöhnt hatten.
    »Ich habe gerade im Labor einen Versuch laufen. Allzuviel Zeit ist also nicht. Am besten, ich nehme die ganze Flaschenkiste einfach mit.«
    »In Ordnung«, sagte Toppe. »Es sind auch nur fünf Flaschen.«
    »Soll ich hier noch was machen?«
    »Ja, ich brauchte die Fingerspuren an der Schranktür.«
    Van Gemmern nickte einmal knapp und machte sich an die Arbeit.
    »Haben Sie eine Ahnung, wo die anderen sind?« fragte Toppe. »Im Büro habe ich heute keinen erreicht.«
    »Die halbe Belegschaft sitzt im Steakhaus.« Van Gemmern pinselte Graphitpulver auf. »Die haben die Kantine geschlossen.«
    Als sie wenig später in ihre Autos stiegen, hatte es angefangen zu schneien; lockere, nasse Flocken, die nicht einmal als Matsch liegenbleiben würden.
    Toppe fuhr hinter dem ED-Mann her, der dahinkroch, als sei er auf einer Spazierfahrt. Dabei war die Straße zwar naß, aber überhaupt nicht glatt. Nach ein paar Kilometern wurde Toppe klar, daß van Gemmern einfach nur ein unsicherer Autofahrer war, der aus unerfindlichen Gründen mal schneller, mal langsamer wurde und zögerliche Überholmanöver unvermittelt abbrach.
    Toppe
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