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Jenseits der Untiefen

Jenseits der Untiefen

Titel: Jenseits der Untiefen
Autoren: Favel Parrett
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die Augen. »Ich hoffe, er ist tot.«
    Die Tür war nicht abgeschlossen, und im Haus war es still und kalt. Es roch muffig. Miles rechnete fast damit, dass Dad irgendwo hier sein könnte, dass er in diesem düsteren Zimmer in seinem Sessel saß und wartete. Aber er war nicht da. Niemand war da. Es schien lange her zu sein, seit jemand da gewesen war. Seit es ein Ort gewesen war, an dem jemand gelebt hatte. Ein Ort, an dem er, Miles, gelebt hatte.
    Er ging hinüber zu dem gerahmten Foto im Regal, auf dem Mum zu sehen war, und nahm das Foto vorsichtig aus dem Rahmen.
    »Cloudy Bay«, sagte er.
    Und er wusste jetzt, dass er recht hatte. Er erinnerte sich. Wie Nick Mum zu sich herangezogen und sie umarmt hatte und wie sie lachte. Wie sie ihn wegschob. Miles wusste nicht, was das hieß, ob es etwas bedeutete oder nicht. Aber er wollte das Foto behalten. Er wollte es mitnehmen.
    Joe kam näher, nahm ihm das Foto aus der Hand. Als Miles sich umdrehte, fiel ihm auf, wie sehr sie sich glichen, Mum und Joe. Wie ähnlich sie sich sahen. Die Augen, die Haarfarbe, die Haut.
    »Sehe ich Mum ähnlich?«, fragte Miles.
    Joe sah ihn an und nickte. Er gab Miles das Foto zurück. »Ja«, sagte er. »Ja.«
    Im Schlafzimmer war noch alles so wie vorher. Harrys Überraschungstüten waren sorgfältig in der Ecke aufgestapelt, noch halb voll. Harry bunkerte immer alles.
    Miles fiel die Tasche herunter, in denen er ein paar Sachen verstaut hatte.
    »Wir müssen nicht alles heute mitnehmen«, sagte Joe, bückte sich und hob die Tasche auf. »Ich fahr morgen noch mal her, okay?«
    Miles setzte sich auf Harrys Bett. Die Decke war kalt in seinen Händen, und er grub die Fäuste hinein.
    »Ich will nicht zur Beerdigung, Joe. Ich gehe nicht. Ich will diese Leute nicht sehen, Tante Jean und diese Verwandten, ich kenne sie noch nicht mal. Ich will sie nicht sehen.«
    Joe legte die Tasche aufs Bett. Seine Stimme war weich.
    »Stuart wird auch da sein und die Kinder aus der Schule. Und George. Du könntest es bereuen, wenn du nicht hingehst. Wenn du dich nicht verabschiedest.«
    Miles versuchte, Joe anzusehen, aber seine Augen waren gereizt. Er wollte sie zumachen. Es war zu hell.
    »Ich bleibe hier«, sagte er und merkte, wie Joe sich neben ihn setzte.
    Und er blieb. Er würde bleiben. Er würde wegen Harry hierbleiben. Das konnte Joe nicht verstehen. Er wusste nichts davon. Aber es war möglich, dass Harry zurückkam, dass er hierherkam. Wie Mum. Weißt du noch, Harry? Wie Mum zurückgekommen ist? Manchmal, wenn wir nicht schlafen konnten, kam sie zurück. Ich weiß es.
    »Ich wollte nicht einschlafen«, sagte er, und das Gewicht seines Körpers gab nach.
    Doch er spürte einen Arm, der ihn hielt. Ihn festhielt.
    »Lass uns weggehen, Miles – du und ich.«
    Er hörte Joe von all den Orten reden, an die sie kommen würden, von tropischen Inseln, von klarem, warmem Wasser, von großen hellen Lichtern fremder Städte. Von der offenen, endlosen Weite des Ozeans. Und er wusste, dass Joe ihn diesmal mitnehmen würde. Wo immer er hinging.
    Miles lehnte den Kopf an die Schulter seines Bruders. Er ließ die Tränen zu.

M iles stand auf dem Deck von Joes Boot und sah übers Wasser. Seine Augen bewegten sich langsam darüber hin, sacht. In der Bucht war es ruhig, still, und man konnte sich nur schwer vorstellen, dass die Dünung jemals so stark gewesen war, dass es je einen Sturm gegeben hatte. Aber Miles sah noch, wo er getobt hatte. Was er getroffen hatte. Felsbrocken in der Größe von Autos waren umgestürzt, sodass Muscheln und Pflanzen, die unter ihnen in Sicherheit gelebt hatten, jetzt meterweit oberhalb des Wassers festhingen, der Sonne ausgesetzt. Hüfthohe Berge von Seetang, den es von den Wurzeln gerissen hatte, überzogen den Strand mit ihrer Schwärze, und ganze Bäume mit Blättern und allem lagen entwurzelt und zerschmettert auf den Felsen.
    Joe sagte, es wäre die stärkste Dünung gewesen, die er je erlebt hatte. Sandbänke, die immer gehalten hatten, waren ausgelöscht worden – verschwunden. Der gesamte Küstenverlauf hatte sich verändert.
    Aber das Steilufer war noch da, das Riff stabil. Winzige Riffel liefen darüber hinweg. Gekräuseltes Wasser, das zu kleinen Linien wurde. Sanfte Wellen, die anfingen sich zu lösen, nach rechts zogen und das Riff umbrandeten. Wellen, aus denen etwas werden konnte, wenn die Flut zurückging. Wellen, mit denen etwas anzufangen war.
    Leichter Wind.
    Wintersonne.
    Das könnte was werden.
    Miles spürte
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