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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis
Autoren: Michael Nagula
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Nord-Süd-Krise und der Rohstoff-Boykott und die Inflation. Eins ergab sich aus dem anderen. Bald wurden die Regale immer lichter. Die kleinen Tante-Emma-Läden machten einer nach dem anderen zu. Versorgungsrationen wurden zugeteilt. Ohne Essenmarken konnte man nichts mehr kaufen. Vor dem Supermarkt zog Militär auf, um ihn vor Plünderern zu schützen. Dann begann das Militär selbst zu plündern. Und dann war alles leer. Es hatte nur ein paar Monate gedauert. Jetzt gab es nur noch Wind und Schnee im einstigen Schlaraffenland der Wünsche.
    »Na, träumst du, wie es damals war?« riß ihn Kristina aus seinen Gedanken.
    Er erschrak, wie unachtsam er war, aber dann umarmte und küßte er sie. »Toll siehst du aus«, sprudelte er hervor. »Und das Wetter ist auch toll. Und wir ziehen los, Richtung Süden. Mann, ich könnte …«
    »Blue«, sagte Kristina und machte sich los.
    »Was ist?«
    »Ich komme nicht mit.«
    »Du kommst nicht …« Blue wußte nicht, was er sagen sollte. »Aber wieso, warum denn?«
    Kristinas Blick streifte über die Stadtsilhouette hinter ihm, als sehe sie das alles zum erstenmal. Dann sah sie ihn voll an.
    »Ich bin krank«, sagte sie. »Ich sterbe.«
    Mit einem gewaltigen Brausen kam die Welt zum Stillstand. Ein Eiszapfen schabte über seinen Rücken. Das Blut pochte in seinen Ohren.
    »Kristina … Du, mach nicht solche Witze. Das ist nicht …«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Vielleicht bist du nur müde.« Seine Gedanken taumelten. »Du bildest dir das nur ein. Woher willst du denn das wissen?«
    »Ich weiß es eben. Das fühlt man.« Ihre Stimme war völlig kontrolliert. »Ich muß mich häufig übergeben. Manchmal habe ich so Anfälle, da bekomme ich keine Luft. Atemlähmung. Und wenn ich mich kämme« – ihre Stimme wurde noch flacher – »dann bleiben so viele Haare am Kamm hängen. Sie fallen einfach aus.«
    Instinktiv faßte er nach ihrem Haar, ihrem herrlichen kupferfarbenen Haar, das er so liebte. Es war stumpf und dünn – und es blieb an seinen Fingern hängen. Hastig riß er seine Hand zurück.
    »Das ist nicht wahr«, sagte er. Er schloß die Augen, als wollte er sich selbst hypnotisieren. »Das ist nicht wahr das ist nicht wahr das ist nicht wahr das ist nicht wahr DAS IST NICHT WAHR!«
    »Doch, es ist wahr.« Kristina zuckte mit den Schultern. Sie wirkte, als redete sie über das Wetter. »Es ist nicht mehr wie früher, Blue. Da konntest du mit fünfzehn sagen, daß du noch sechzig, siebzig Jahre vor dir hast. Heute kannst du mit vierzehn weg vom Fenster sein. Wir haben keine Schuld an dem, was passiert ist, aber wir müssen es ausbaden. Scheiß drauf.«
    Für einen Augenblick sah es aus, als würde sie ihre eiserne Selbstkontrolle verlieren, aber sie fing sich wieder.
    »Wir werden einen Arzt finden.« Blue redete wie im Fieber. »Irgendwo werden wir einen finden. Der wird dir helfen. Du wirst nicht …« Er brachte das Wort nicht über die Lippen.
    »Es ist zu spät«, sagte Kristina leise. Mit kalten Fingern fuhr sie sanft über Blues Wange. »It’s all over now, Baby Blue.« Sie lächelte. »Aber es war schön.«
    Blue würgte. Ein gnädiger Schock bewahrte ihn vor dem Zusammenbruch. »Ich bleibe bei dir.«
    »Nein!« Kristina trat erschrocken zurück. »Nein, das will ich dir nicht antun. Laß mich gehen. Allein. Bleib hier. Bitte, Blue, versprich mir das. Du sollst mich so in Erinnerung behalten, wie ich war, bevor …« Sie verstummte. »Leb wohl«, sagte sie dann. »Viel Glück.« Sie drehte sich um und ging.
    Blue sah ihr nach, wie sie davonging, allein und sehr aufrecht. Er war unfähig, sich zu bewegen. Mein Gott, kreiselte es in seinem Kopf, das kann nicht wahr sein. Wie kann man uns so etwas antun. Wir sind doch noch viel zu jung. Wie kann man uns so etwas antun. Laß das nicht wahr sein.
    Als Kristina hinter der Supermarktruine verschwand, war es, als hätte man den Lebensnerv aus Blue gezogen. Er fiel auf die Knie, und seine Gedanken verwirrten sich.
    Ein Schleier lag vor der Sonne, als sich Blue wieder erhob. Es war kälter geworden. »Weg«, murmelte er. »Weg von hier.« Vielleicht gab es irgendwo im Süden noch Länder, die nicht im Chaos versunken waren. Vielleicht konnte er sie warnen, ihnen sagen: Laßt es nicht soweit kommen. Ihr tötet eure Kinder. Kristina.
    Er riß ein Stück von dem Plakat ab, das an der Wand flatterte. Dann machte er sich auf den Weg. Während er durch die Schneewüste nach Süden stapfte, über weite, lautlose Flächen, die
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