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Jenseits der Finsternis

Jenseits der Finsternis

Titel: Jenseits der Finsternis
Autoren: Michael Nagula
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die Grammophonnadel über das Vinyl kratzte und die Schallplatte ruinierte. Der Tonarm war zu schwer; die Plattenrillen wurden regelrecht glattgefräst. Sie konnten jede Platte nur einmal hören, dann war sie verbraucht. Die Vergänglichkeit feierte wahre Triumphe in diesen Tagen.
    Der verrückte Blockhead begann sogar zu tanzen. Er fuchtelte mit den Händen, warf den Kopf hin und her; sein Körper zuckte, als jage jemand Stromstöße hindurch. Sein Gesicht war wie in Agonie verzerrt. Ab und zu stieß er Schreie aus. Das war Blockheads Therapie gegen die Verzweiflung, die sich immer mehr in seinen Verstand fraß.
    Blockhead – schon der Name war ein verzweifelter Witz. Keiner wußte mehr, wie es dazu gekommen war, aber nachdem sie sich ein paar Wochen in dem Keller getroffen hatten und die Musik immer mehr zu ihrer eigentlichen Welt geworden war, fanden sie, daß sie sich neue Namen geben sollten, die besser zu dieser Traumwelt paßten. So wurde aus Maximilian Schmidt Duane Eddy und aus Günther Junghans Rocky Horror. Gerald Förster nannte sich Elvis, Andrea Neumann entschied sich für Blondie. Und aus Florian Vorberg wurde Blockhead, der Dummkopf. »Weil ich’s einfach nicht in meinen Schädel reinkriege, was aus uns geworden ist.«
    Nur Kristina Maybach war damals bei ihrem Vornamen geblieben, weil er ihr besser gefiel als alle anderen Namen. Was hätte man an Kristina auch verbessern können, dachte Blue. Er war in Kristina verliebt, mit einer Maßlosigkeit, die ihn manchmal selbst erschütterte. Der bloße Gedanke an sie war wie eine Injektion, die warm durch seine Adern pulste. Sie weckte einen Lebenswillen in ihm, den es in dieser Fegefeuer-Welt eigentlich nicht mehr gab. Auch wenn der Lebenswille nur in dem Wunsch bestand, in ihrer Nähe zu sein – es war ein Wunder.
    »Kristina, du bist ein Wunder«, sagte er, als er sich neben sie setzte.
    Sie lächelte auf ihre melancholische Weise. »Ein Wunder, ich? Wieso?«
    »Weil ich glücklich bin, wenn ich dich anschaue. Und wer ist heutzutage schon glücklich?«
    »Ich zum Beispiel«, erwiderte sie leise. Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, sagte jedoch nichts.
    Aber Blue verstand den Satz, den sie nicht ausgesprochen hatte. Ein nie gekanntes Glücksgefühl wuchs in ihm. »Wenn du glücklich bist, dann solltest du fröhlicher dreinschauen«, sagte er schwerfällig. »Du bist wie eine traurige Sonne.«
    »Eine traurige Sonne …« Sie lächelte wieder, sogar ein wenig stolz. »Ich werde mich bessern«, versprach sie.
    Er streckte seine Hand aus. »Du hast schöne Haare.« Kupferfarben funkelten sie auf, als seine Finger sacht darüberstrichen. »Sogar einen Scheitel hast du.«
    »Ich … ich habe kürzlich einen Kamm gefunden.« Sie zögerte. »Ich habe gehofft, daß es dir gefällt.«
    Er sah sie an. Sie trug unförmige, wattierte Jeans, einen verbeulten Norwegerpullover und eine zu große Bomberjacke aus Leder. »Es gibt niemand, der schöner ist als du«, sagte er. »Das weißt du doch.« Er war verwirrt, weil das, was er sagte, so nach Kino klang.
    Hastig versuchte er, seine Verwirrung zu überspielen. Er zerrte am Reißverschluß seines Parka und holte eine buntbedruckte Blechbüchse hervor.
    »Da«, sagte er. »Ist für dich.«
    Kristina schaute das Geschenk ungläubig an. Es war eine Dose mit Ananas. Blue kam sich plötzlich unglaublich dumm vor. Der romantische Liebhaber, dachte er bitter. Was schenkt er seiner Angebeteten? Blumen? Einen Kuß? Nein, eine Dose Ananas. Was für eine blöde, unbeholfene Idee. Kein Wunder, wenn sie dich auslacht.
    Immer noch hielt er die Dose in der ausgestreckten Hand. Die gelben Früchte auf der Verpackung lockten. Sein Magen knurrte. Er hatte Hunger, daß ihm ganz flau war.
    »Da«, sagte er noch einmal. »Keine zarte Liebesbotschaft, ich weiß, aber …«, er krümmte sich unter der abgegriffenen Sprachfloskel, »aber es kommt von Herzen.«
    Kristina nahm die Dose aus seiner Hand.
    »Ach, Blue«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Über ihre Wangen sickerten Tränen, die im schwachen Licht des Feuers aufglommen wie Rubine. »Das ist das schönste Geschenk, das es je gegeben hat.« Sie lehnte sich an ihn und weinte.
    »Aber so toll war es nun auch nicht«, murmelte er, während er sie streichelte.
    »Doch.« Sie lächelte ihn an. »Weil ich weiß, daß ihr beide es ehrlich gemeint habt.«
    »Wir beide?« stammelte Blue verblüfft.
    »Ja. Du – und dein knurrender Magen.«
    Danach schwiegen beide. Was gab es schon
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