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Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders
Autoren: Franz Kabelka
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erholen sich in einem Römer, in dem bauchigen Glas wirken sie ziemlich verloren. Als der Wirt unsere zwei Hirter bringt, stoßen wir an. Es klirrt, hart an der Bruchgrenze.
    „Hast ein Glück.“ Der Habringer zückt einen kleinen Fotoapparat. „Dass ich euch noch nicht gelöscht hab.“ Er hält mir das Display vor die Nase. „Davor und danach“, grinst er. „Weißt eh: mein Hobby.“
    Ja, ich weiß. Obwohl das Hobby mehr eine Marotte ist. Von jedem neuen Gast schießt der Habringer genau zwei Fotos: eins vor dem ersten und eins nach dem letzten Glas. Die digitale Dokumentation seiner saufenden Klientel.
    „Darf ich?“
    Der Wirt überlässt mir das Gerät, ich drücke die Zoomtaste. Das erste Bild ist unscharf und unterbelichtet, beim zweiten gibt es keinen Zweifel: Der in der Mitte bin ich, links und rechts von mir die angeheiterten Visagen von Johannes Reichert und Otto Bell. Ihre Arme ranken sich um meine Schultern, als müssten sie mich festhalten.
    Zwei Tote, die sich an mich klammern.
    Ich war nicht auf ihrem Begräbnis, aber mit ihnen im Grünen Baum. Jetzt ist auch mir der Appetit vergangen.
    Ich schaue Regina an, sie schaut mich an. Keiner sagt etwas. Meine Hände rutschen tief in die Hosentaschen.
    In der linken pikst mich das Flügerl des Schutzengels in den Finger.
    *
    Auf dem Rückweg reden wir nur über Geschäftliches. Ob wir unsere Fremdwährungskredite nicht besser umschulden sollten, jetzt, wo der Schweizer Franken so hoch steht, und uns das Wasser bis zum Hals. Dass das Leck im Nasszellenbereich immer noch nicht gefunden wurde und sich die Feuchtigkeit unkontrolliert durch das ganze Gebäude verbreitet, macht Regina noch größeres Kopfzerbrechen.
    „Am Ende dürfen wir dem Türken unter uns noch die Bude sanieren!“
    Ich sage, dass sie nicht übertreiben soll, der Mehmet ist ein feiner Kerl, der würde sich nie auf unsere Kosten bereichern.
    „Du bist so was von naiv!“, ruft sie. „Wer redet denn von bereichern! Ich meine, wenn bei uns das Wasser durch den Plafond käme, würde ich mich auch an dem oben schadlos halten.“
    Ich weise sie darauf hin, dass dieser Satz wieder ganz typisch ist für sie: „Wenn bei uns was passiert, würde ich ... Das heißt, der liebe Edgar kommt nicht einmal mehr theoretisch vor in deinen Planungen!“
    Sie ist schon drauf und dran, zu einer Retourkutsche anzusetzen, ihre Hände fuchteln in der Luft herum, typische Vorboten eines Reginaschen Donnerwetters; doch plötzlich erstarrt sie, bricht in Tränen aus. Aus heiterem Himmel! Ich kann es nicht glauben. Habe ich sie überhaupt schon jemals weinen gesehen? Nicht einmal, als wir ihre Mutter begraben haben, sind ihr die Augen feucht geworden. Und jetzt plärrt sie Rotz und Wasser, wegen nichts und wieder nichts.
    „Entschuldige“, sage ich. Ich will ihr die Hand auf die Schulter legen, aber sie dreht sich heftig ab.
    „Lass mich in Frieden!“
    Okay, dann lass ich dich in Frieden. Hab mich gern.
    Wir trennen uns ohne Abschied. Ich stapfe in Richtung Wohnung, sie in Richtung New Life. Als ich mich noch einmal umdrehe, wirft sie gerade die Maiglöckchen in einen Müllkübel.
    *
    Ich steige die Wendeltreppe hoch zum Schlafzimmer. Das Medaillon in meiner Hand schlägt ans schmiedeeiserne Geländer. Ein Klingeln. Als ob es warnen möchte vor etwas.
    Ich weiß nicht, was mich hinauftreibt, was mich die Laden ihres Schranks herausziehen lässt, eine nach der anderen, als wäre ich ein Einbrecher oder ein Fetischist. Höschen, Strümpfe, Strumpfhosen quellen mir entgegen, und ein durchsichtiges Negligé, das ich noch nie gesehen habe. Das Schutzengerl schaut mir vom Nachtkästchen aus beim Ausräumen zu. Nachdenklich hat es das Kinn in die linke Hand geschmiegt, nur ein Flügel ist zu sehen. Armes Engerl: Wie willst du damit wen beschützen?
    Suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.
    Aber ich habe nicht angeklopft, und ich weiß nicht, wonach ich suche. Ich weiß nur, dass irgendetwas nicht zusammenpasst. Die Hand auf dem Video. Das Ketterl im Wald. Das morsche Holz. Mein Anruf in letzter Sekunde. Die Löcher in meinem Hirn.
    Ich hocke auf dem Boden, die Unterwäsche um mich herum aufgeworfen zu einem halbkreisförmigen Deich. Was, wenn er bricht? Werde ich dann zum Schimmelreiter, zum Gespenst, das in alle Ewigkeit seine Kontrollrunden zieht?
    Mit einem Mal verspüre ich Ekel. Nein, ich gebe nicht mehr so viel auf das Hirn und seine Leistungen. Auf die wirklich wichtigen Dinge
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