Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jemand Anders

Jemand Anders

Titel: Jemand Anders
Autoren: Franz Kabelka
Vom Netzwerk:
mich verdutzt an, ehe sie in ein penetrantes Gelächter ausbrach. Ich musste sofort an den alten Haflinger von Onkel Gerhard denken. Der wieherte in derselben Tonlage, was überhaupt nicht zu seiner massigen Statur passte.
    Ob ich wirklich so knapp am Abgrund vorbeigeschrammt bin? Jedenfalls hat sie, die immerzu Kontrollierte, die Obercoole, für ein paar Augenblicke ziemlich aus dem Häuschen gewirkt.
    SHT wie Schweres Schädel-Hirn-Trauma, retrograde Amnesie, Glasgow-Koma-Skala ... Mit solchen Begriffen durfte ich mich in den vergangenen Wochen auseinandersetzen. Wenn der Frontallappen mit einem Felsbrocken auf Kollisionskurs geht, hat halt meist Ersterer das Nachsehen, hatte Oberarzt Sellner gewitzelt. Für seine Art von Humor brauchst du einen eigenen Draht.
    Statistisch gesehen gehöre ich zu jenen vierzehn Prozent, deren Schädel-Hirn-Trauma von einem Freizeitunfall rührt. Die Opfer von Verkehrsunfällen hätten, was die Mortalitätsrate anlangt, deutlich die Nase vorn.
    „Haben Sie gewusst, dass SHT bei Erwachsenen vor dem vierzigsten Lebensjahr hierzulande die häufigste Todesursache darstellt? Na ja, in dieser Altersgruppe ist man halt noch dynamischer unterwegs.“
    Ich habe sein Grinsen als einen zarten Anflug von Selbstironie interpretiert. Immerhin weiß ich von Schwester Agnes, wie gerne er in seinem weißen Porsche durch die Gegend donnert.
    „Rein statistisch betrachtet haben Sie demnach aufgrund Ihres Alters wenig zu befürchten …“
    Es sollte wohl als Trost gemeint sein, aber es war ein Trost von der Art, dass man sich wenigstens nicht mehr so leicht mit AIDS infizieren könne, wenn man erst einmal impotent sei.
    Am seltensten sind offenbar Gewalttaten die Ursache für eine solche Verletzung: lächerliche 1,2 Prozent. Sellners Ergüsse halfen mir wenig. Mich beschäftigte vorrangig, ob sich die Erinnerungslücke von ca. drei Wochen, die in meinem Hirn klaffte, jemals wieder schließen würde.
    „Schwer zu sagen, wenn nicht überhaupt unmöglich“, meinte dazu der Oberarzt, „eine seriöse Prognose nämlich. Schon gar nicht in atypischen Fällen wie dem Ihren. Einerseits waren Sie höchstens eine Stunde lang ohne Bewusstsein, andererseits weisen Sie eine überdurchschnittlich große Erinnerungslücke auf für ein mittelschweres SHT. Zum Glück dürften sich Ihre bewusstseinsmäßigen Defizite auf diese retrograde Amnesie beschränken. Subjektiv schlimm, sicher; aber angesichts dessen, was wir im Leben sonst so alles vergessen, würde ich diese eine Lücke nicht überbewerten.“
    Womit er wohl recht hat, der kauzige Herr Doktor.
    Schon vor dem Unfall sind meine Gedanken immer öfter ums eigene Denken gekreist, genauer um die Defizite, die sich beim Denken im Alter zunehmend einstellen. Früher hab ich mich im Fall des Falles – eines Ausfalls, sollte ich wohl eher sagen – mit einem selbstironischen Witzchen darüber hinweggerettet nach dem Strickmuster: Solange du deine Vergesslichkeit noch mitkriegst, hält sich die Verkalkung ja in Grenzen.
    Unterhält sich ein altes Ehepaar über die Zukunft:
    „Bring mir ein Sträußchen Maiglöckchen, wenn es soweit ist“, sagt er. „Dann weiß ich, was ich zu tun habe.“
    „Maiglöckchen?“, fragt sie. „Was willst du mit Maiglöckchen?“
    „Sie essen, natürlich! Ein Strauß dürfte reichen.“
    Seit ich den Sechziger, diese elende Schwelle, überschritten habe, fällt es mir immer schwerer, einen lockeren Spruch zu finden, um peinliche Ausfälle zu übertünchen. Überhaupt: Flotte Sprüche, die waren immer schon mehr ihre Domäne.
    So wie unser neuer Slogan. Ist natürlich auch auf Reginas Mist gewachsen:
    Wollten Sie schon einmal jemand anders sein? Freier, frischer, fitter? Dann kommen Sie ins New Life. Ein neues Leben erwartet auch Sie!
    Ich habe sofort an Easy Rider denken müssen; das Road Movie, das ich in den späten Neunzigerjahren zum ersten Mal sah. 1969, bei seinem Erscheinen, hätten mich keine zehn Pferde ins Kino gebracht. Nicht wegen eines Films über Hippies.
    Wolltest du schon mal jemand anders sein?, fragt Fonda. Mickey Mouse wäre nicht schlecht, lautet Hoppers Antwort.
    Der Spruch passt perfekt zu den beiden bekifften Streunern, wie sie plan- und ziellos durch die Welt schweben auf ihren bunten Harleys, die Köpfe in psychedelischen Wolken. Nie werde ich kapieren, was einem Drogen und Motorradfahren geben können. Andererseits: Wenn ich meinen eigenen Trip Revue passieren lasse, muss ich zugeben: Es braucht kein Gift
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher