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Jan Fabel 01 - Blutadler

Titel: Jan Fabel 01 - Blutadler
Autoren: Craig Russell
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einem sonnigen Tag in Planten un Blomen aufgenommen. Das alte Foto, von schlechter Qualität, war aus einiger Entfernung geknipst worden, doch er konnte die Züge eines etwa vierzehnjährigen Mädchens mit mausfarbenem Haar gerade noch erkennen. Es war weder ein hässliches noch ein hübsches Gesicht, sondern eines, das man auf der Straße überhaupt nicht bemerken würde. Neben ihr standen ein älterer Junge von etwa neunzehn Jahren und ein Paar von Mitte vierzig. Sie strahlten eine Vertrautheit und Ruhe aus, die sie sofort als Familie erkennen ließen.
    »Sie ist immer noch ein Mensch«, sagte Fabel, ohne den jungen Polizeimeister anzusehen, »immer noch eine Tochter. Die Frage ist, wessen Tochter.« Er zog einen Kunststoffbeutel aus der Jackentasche und legte das Foto hinein. Dann bat er Möller: »Lassen Sie mir Ihren Bericht so bald wie möglich zukommen.«
     

 
    Hamburg-St. Pauli,
    Mittwoch, den 4. Juni, 6.00 Uhr
      Im Treppenhaus forderte Fabel den Polizeimeister auf, ihn in die Wohnung im ersten Stock zu begleiten. Dort wartete bereits ein uniformierter Beamter, der mit einer alten Frau Tee trank. Sie hatte ein vogelähnliches Äußeres und papierdünne Haut. Die Wohnung hatte genau denselben Grundriss wie die in der darüber liegenden Etage. Aber die Jahrzehnte, die die alte Frau hier bereits verbrachte, hatten sich in die Wände eingeätzt, sodass die Wohnung zu einem Teil der Mieterin geworden war. Im zweiten Stock dagegen war es nicht das Leben, sondern der Tod eines Menschen, der die einzige dramatische Spur hinterlassen hatte.
    Der Beamte erhob sich aus dem Sessel, als Fabel eintrat, doch dieser bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Beller nannte den Namen der Mieterin: Frau Steiner. Sie starrte mit großen, runden, wässrigen Augen zu Fabel hinauf. Dies und ihre vogelartige Zerbrechlichkeit ließen ihn an eine Eule denken. An einer Wand stand ein Tisch mit mehreren Stühlen. Fabel zog einen heran und nahm der alten Frau gegenüber Platz.
    »Geht's Ihnen gut, Frau Steiner? Ich weiß, das alles muss ein Schock für Sie sein. Eine schreckliche Sache. Bestimmt stört es Sie, dass wir hier herumtrampeln. Zu viel Lärm ...«
    Die alte Frau beugte sich vor und runzelte die Stirn über den Eulenaugen, als müsse sie sich stark auf seine Worte konzentrieren.
    »Keine Sorge, der Lärm stört mich nicht. Ich bin nämlich ein bisschen taub.«
    »Aha«, sagte Fabel und hob leicht die Stimme. »Dann haben Sie gestern Nacht nichts gehört?«
    Plötzlich wirkte Frau Steiner tief traurig. »Also, wahrscheinlich doch. Vielleicht habe ich etwas gehört, ohne es zu wissen.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Fabel.
    »Ohrenklingen. Das geht leider mit meiner Taubheit einher. Wenn ich nachts mein Hörgerät herausnehme, scheine ich Geräusche zu hören: Schläge, ein hohes Pfeifen, sogar Schreie. Aber es ist nur mein Ohrenklingen. Besser gesagt, ich weiß nicht, ob es mein Ohrenklingen ist oder nicht.«
    »Ach so, tut mir Leid. Das muss unangenehm sein.«
    »Man muss es innerlich ausschalten. Sonst würde man verrückt werden.« Sie schüttelte ihren kleinen, vogelartigen Kopf ganz langsam, als könne eine plötzliche Bewegung ihn verletzen. »Ich habe es schon sehr, sehr lange, junger Mann. Seit Juli 1943, um genau zu sein.«
    »Die britischen Bombenangriffe?«
    »Freut mich, dass Sie sich mit der Geschichte auskennen. Ich muss unglücklicherweise mit meiner leben. Oder wenigstens mit ihren Echos. Ich bin draußen überrascht worden, als die erste Welle kam. Beide Trommelfelle geschädigt. Und das hier ...« Sie schob einen schwarzen Wollärmel hoch und entblößte einen unglaublich mageren Arm. Die runzlige Haut war rosa-weiß gescheckt. »Dreißigprozentige Verbrennungen. Aber was mir am meisten zu schaffen macht, ist das Ohrenklingen.« Sie schwieg einen Moment lang, und tiefe Trauer schien in den Eulenaugen aufzusteigen. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass das arme Mädchen um Hilfe gerufen hat und ich es nicht gehört habe.«
    Fabel schaute am Kopf der Frau vorbei auf die Sammlung alter Schwarzweißfotos auf der Anrichte: Da war sie als Kind und als junge Frau, bereits mit Eulenaugen, aber zusammen mit einem schwarzhaarigen Mann. Ein anderes Foto zeigte denselben Mann in einer Wehrmachtsuniform, wie Fabel zuerst glaubte. Dann erkannte er, dass es sich um die Uniform eines Polizei-Reservebataillons handelte. Keine Kinder. Keines der Fotos war weniger als fünfzig Jahre alt.
    »Sind Sie ihr oft
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