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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Führer erschossen, als der seine Wäsche in einen Münzsalon brachte, in Arlington in Virginia, und Seifenflocken flatterten um den Toten.
    Wäre sie hier geblieben, wenn nicht in der Wohnung an der Straße am Fluß? Sie wäre kaum geblieben, hätte sie nicht, ohne noch zu suchen, die schmale Anzeige gefunden, die drei Zimmer am Riverside Drive versprach, »alle mit Blick auf den Hudson«, zu haben auf ein Jahr für 124 Dollar im Monat. Die Stimme am Telefon klang erstaunt über Gesines Fragen. Gewiß war die Wohnung überlaufen mit Anwärtern, »aber wir warten auf jemand, den wir mögen«. Kinder waren zugelassen in dem Haus. »Sollten Sie farbig sein, kommen Sie unbesorgt.« Gesine war auf ihrem ersten Besuch in New York im Fünferbus den Riverside Drive hinuntergefahren, dem inneren Rand einer ausgedehnten Kunstlandschaft, die mit einer Promenade am Fluß beginnt, landeinwärts geht mit einer Schnellstraße aus getrennten Fahrbahnen und nahezu gärtnerischen Zufahrtschleifen, mit einem geräumigen, hügeligen Park fünfzig Blocks lang, mit Denkmälern, Spielplätzen, Sportplätzen, Liegewiesen und bankgesäumten Spazierwegen. Erst dann rahmt den Park die eigentliche Straße, die an vielen Stellen gekrümmt ist, über zierliche Bodenbuckel schwingt, schmale Abfahrtfinger hinter wiederum Grüninseln zu den Häusern ausstreckt, ein Unikum in Manhattan, eine Veranstaltung von Gartenkunst, eine Straße mit Aussicht auf Bäume, auf Wasser, auf Landschaft. Gesine hatte sich damals gewünscht, jemals zu wohnen in einer der hohen Burgen des Wohlstands, reich geschmückt im orientalischen, italienischen, ägyptischen, immer prächtigen Stil, eher ehrwürdiger durch Verwitterung, und sie hatte die Straße für nicht erschwinglich gehalten.
    Der Broadway, wo er die 96. Straße kreuzt, ist ein Marktplatz aus meist kleinen Häusern, mit viel Laufkundschaft unterwegs in der irischen Bar, dem Drugstore an der Südwestecke, dem Eßgeschäft gegenüber, am Zeitungskiosk, und damals und heute standen abgerissene Männer an den Hauswänden, Hehler wie Diebe, Betrunkene, Irre, viele afrikanischer Abstammung, arbeitslos, krank, manche bettelnd. Die Sprachen auf diesem Broadway sind vielfältig, verwirrend arbeiten Akzente aller Kontinente an Versionen des Amerikanischen, im Vorbeigehen zu hören sind das Spanisch aus Puertoriko und Cuba, das westindische Französisch, Japanisch, Chinesisch, Jiddisch, Russisch, die Jargons der Illegalen und immer wieder das Deutsche, wie es vor dreißig Jahren in Ostpreußen, Berlin, Franken, Sachsen, Hessen gesprochen wurde. Das Kind hörte eine hochbusige Matrone, altmodisch in einem großblumigen Kleid mit Schleifen, auf deutsch einreden auf den kleinen Mann, der bekümmert unter seinem schwarzen Hut neben ihr schlich, und das Kind blieb vergeßlich stehen, merkte Gesines Hand erst nach einer Weile ziehen. Es war ein weißlicher Vormittag, mit vielen Leuten auf der Straße, die sich vorsichtig gegen die von Feuchtigkeit verdickte Luft bewegten, und die Kreuzung versprach die Erinnerung an Italien für viele Morgende. Die 97. Straße, abfallend nach Westen, war düster zwischen den alterskranken schmächtigen Hotels, schmutzig mit verschleimtem Abfall im Rinnstein, fleckigen Säcken und verbeulten Mülltonnen auf dem Bürgersteig, und öffnete sich an ihrem Ende auf ein weites schwingendes Feld aus dem fließenden Damm des Riverside Drive, Wiesenhängen, dem walddichten Sommerpark. In dem Spielplatz sprangen Kinder unter glitzernden Wasserstrahlen umher. Im Schatten am Parkgitter lagen und saßen Familienrunden auf dem kühlen Gras. Hinter den fülligen Blattwolken hielt sich das blaugraue Bild des jenseitigen Ufers, des meilenbreiten Flusses. Sie standen eine Weile gegenüber dem Haus aus gelben Steinen, um dessen Fuß ein Band exotischer Stiermuster geschlungen war. Zu wohnen an dieser Stelle schien so weit vom Griff, Gesine begann Teile ihres Geldes in Bestechungssummen aufzuteilen, sah sich in umständlichen, gefährlichen Verhandlungen.
    Wenn ich jetzt dich vorschicken könnte
    Du sagst: Es soll Ihr Schade nicht sein, mein Herr. Du sagst: Die Vorzüge dieser Wohnlage bewegen mich, mein Herr, Ihnen meine Erkenntlichkeit zu versprechen.
    So hast du nie reden können.
    Die Wohnung beginnt mit einem winzigen Flur, dessen linke Seite eine Küche in der Wand hat und mit dem wuchtigen Kühlschrank endet. Der Flur öffnet sich nach rechts in ein großes Zimmer, in dem zwei Mädchen Taschenbücher in
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