Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Meerjungfrau-skeletten und Schaubilder zum Atmungssystem. Da hatte sich jemand große Mühe gegeben. Sie stellte das Buch zurück an seinen Platz und nahm ein anderes. Mit diesem, Chimären heute , war es genau dasselbe: Hunderte von Seiten detaillierter »Forschung«. Sie stellte auch dieses Buch zurück. Dabei fiel ihr auf, dass keiner der Bände in dieser Abteilung ein Logo des Verlags trug. Vielleicht handelte es sich um eine Sammlung von diesem kruden Geschreibsel, das Fantasy-Fans manchmal im Eigenverlag produzierten? Oder, oh, vielleicht waren das Handbücher für irgendein ausgefeiltes, selbst entworfenes Rollenspiel? Oder gefälschte Dissertationen. Womöglich waren die Old Boys höchstpersönlich die Verfasser. Sollte sich herausstellen, dass ihr eigener Großvater (der ausschließlich Romane von halb depressiven Autoren las oder von solchen, die grundsätzlich auf jede Art von Adverb verzichteten) eins von denen hier fabriziert hatte, dann würde sie ihn gnadenlos damit aufziehen.
Noch einmal musterte Lily die gesamte Abteilung. Cane … Card … Carr … Aha!
Sie zog ein Buch aus dem Regal und las laut den Titel: Geschichte der Dryaden von William Carter.
Sie starrte auf den Namen des Verfassers und wurde zur Salzsäule, als sie begriff. Der Name ihres Großvaters war Richard. Dieses Buch aber hatte ein William Carter geschrieben.
Ihr Vater hatte es geschrieben.
Eine Sekunde lang glaubte sie, es wäre eine Sinnestäuschung. Aber das war unmöglich. Sie hatte doch ihre Medizin genommen. Das Buch hatte sie bloß kalt erwischt, das war alles. Sie hatte nicht damit gerechnet, auf irgendetwas zu stoßen, das ihr Vater gemacht oder berührt hatte. Sanft fuhr sie mit den Fingern über seinen Namen, der in vergoldeten, erhabenen Lettern in das weiche Leder geprägt war. Ihre Hände zitterten.
Es gab keinen Grund, derart erstaunt zu sein. Sie wusste doch, dass ihr Vater hier studiert hatte. Das war eine der wenigen Informationen, die sie über ihn besaß. Sie wusste nicht, wie er ausgesehen hatte. (Mom hatte die Fotos schon vor Jahren vernichtet, obwohl sie sich weder an den Fakt selbst noch an das Warum erinnern konnte.) Lily wusste noch nicht mal seinen richtigen Namen. (Er hatte den Nachnamen ihrer Mutter angenommen, als die beiden heirateten. Grandpa zufolge hatte er mit seiner eigenen Familie so seine »Schwierigkeiten« gehabt.) Er war einige Monate vor Lilys Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Lily, deren Hände immer noch zitterten, schlug das Buch auf. Sie blätterte durch Zeichnungen von Bäumen, von Bonsais bis Immergrün alles dabei. Und neben jedem einzelnen Baum war eine Figur dargestellt – eine Fantasiefigur. Manche hatten Blätter statt Haaren, andere Zweige statt Armen. Nachdem sie ein Kapitel mit der Überschrift »Kräfte eines Baumgeistes, Beherrschung von Pflanzen« überflogen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass ihr Vater durchaus ein kreativer Mensch gewesen sein musste. Und außerdem ein bisschen plemplem.
Soweit sie sehen konnte, hatte nichts von alldem hier etwas mit einem Schlüssel zu tun. Sie legte das Buch ihres Vaters auf den Karteikartenschrank. Dann zog sie den Kasten mit der Aufschrift W heraus und blätterte die Kärtchen durch, um nach einem Verfasser zu suchen, dessen Name mit »Wil« begann und der Buchsignatur, die sie von der Blinden Leserin bekommen hatte. Eine Minute später hatte sie gefunden, was sie suchte:
Verfasser: Wilson, Woodrow.
Titel: Die Gargoyles von Princeton: Lektionen von Professor Ape. »Ihr Jungs haltet euch wohl für wahnsinnig witzig, was?«, murmelte Lily vor sich hin.
Unmöglich, dass Woodrow Wilson, der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, ein ganzes Buch vom Umfang einer kompletten Doktorarbeit über Gargoyles geschrieben haben sollte … Oder war er vielleicht Mitglied in Vineyard Club gewesen? Konnte es sein, dass diese Bücher hier Teil eines über hundert Jahre alten Insiderwitzes waren?
Sie las noch einmal den Nebentitel: Lektionen von Professor Ape. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Diesen Namen hatte sie schon mal gehört. Hatte nicht die Fremdenführerin auf der Campus-Tour eine Steinfigur erwähnt, die Professor Ape genannt wurde?
Das musste der nächste Hinweis sein.
Sie konnte gar nicht erwarten, es Tye zu erzählen.
Kapitel drei
L ily verließ die Bibliothek und flüchtete hinaus in den herrlichen, nicht im Geringsten gruseligen Sonnenschein. Als sie aus dem Gebäude trat, hörte sie
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