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Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)

Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)

Titel: Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Autoren: Sarah Beth Durst
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wollte ihre Arme weit nach oben strecken, um den Wind einzufangen. Ihre Finger stießen unsanft gegen den Autohimmel. Verlegen ließ sie die Hände sinken und beschränkte sich darauf, aus dem Fenster zu starren. Vor ihnen schwang sich eine steinerne Brücke über einen See, dahinter tauchte ein weitläufiges Bootshaus auf. Wettkampfboote lagen kreuz und quer auf einem asphaltierten Strand. Die Szene wirkte wie ein Foto aus einer Werbebroschüre. Lily wurde ganz beschwingt zumute. Gierig nahm sie den Anblick in sich auf. Das war einfach perfekt!
    Nachdem sie die Brücke hinter sich gelassen hatten, hielt Großvater an einer Ampel und verkündete: »Wir sind da.«
    »Zu Hause«, meinte Lilys Mom glücklich.
    Lily schloss die Augen, als ihr perfekter Augenblick in Stücke brach.
    »Nein, Rose«, sagte Grandpa ruhig und geduldig. »Das ist Princeton University, nicht unser Zuhause. Wir sind hier zu meinem fünfzigsten Absolvententreffen. Erinnerst du dich?« Lily machte die Augen wieder auf und musterte ihre Mutter aufmerksam. Würde es ihr wirklich wieder einfallen, oder würde sie bloß so tun, als ob?
    Rose runzelte kurz die Stirn und sagte dann: »Aber natürlich. Ja, ja. Es tut mir leid.« Der Stoff am Ärmel ihrer Chiffonbluse flatterte, als sie mit der Hand Richtung Fenster winkte und anfügte: »Es ist sehr schön hier.«
    »Das fand ich auch immer«, erwiderte Grandpa ernst. »Hast du heute schon deine Medizin genommen?«
    »Hat sie«, antwortete Lily anstelle ihrer Mom. »Aber hier ist noch eine Dosis … « Sie zog den Reißverschluss an der Handtasche ihrer Mutter auf und nahm eine kleine Ampulle heraus.
    »Es geht mir gut. Wirklich gut«, versicherte Rose. In ihrer Stimme lag eine falsche Fröhlichkeit. »Nur ein kleiner Hickser.« Diesen Ausdruck hatte sie sich selbst ausgedacht: Hirnhickser. Als ob diese harmlose Bezeichnung alles richten würde. »Du kannst das wieder wegpacken.«
    Lilys Finger schlossen sich fester um das Fläschchen. Genau wie lange war Mom glücklich gewesen? Fünf Minuten? Drei? Sie steckte das längliche Gefäß in ihre Tasche, leicht erreichbar, falls ihre Mutter die Medizin doch noch brauchen sollte. Dann zwang sie sich, wieder aus dem Fenster zu sehen.
    Vor einer Bibliothek, deren Dach metallischen Flügeln glich, bog Grandpa rechts ab. Weiter ging es, vorbei an einem Observatorium und einem Stadionbau aus Beton, der von zwei großen Tigern aus Metall flankiert wurde, dem Maskottchen von Princeton University. Dann, an einem Schild mit der Aufschrift »Privater Parkplatz«, fuhr er nach links auf eine mit Kies befestigte Freifläche und hielt an.
    »Vineyard Club«, sagte er und deutete auf einen baumbestandenen Hügel.
    Als Lily sich nach vorn beugte, erhaschte sie einen Blick auf ziegelrote Giebel und spitzbogige Fenster hinter Bäumen. Sie hielt den Atem an. Vineyard galt als der exklusivste und prestigeträchtigste Eating Club der ganzen Universität. Hier war ihr Grandpa Mitglied gewesen.
    Seinem Beispiel folgend, stieg sie aus und sog ganz tief den Duft von Princeton ein: den erdigen Geruch der Kiefern und den süßen Hauch der Tulpenbäume, gemischt mit dem säuerlichen Aroma schalen Bieres. Es roch genau, wie es riechen sollte. Sie lächelte.
    »Oh, Freiheit!«, jubelte ihre Mom, sprang aus dem Auto und begann, sich wie wild um sich selbst zu drehen, die Arme in einem großen V über den Kopf gestreckt. Die Ärmel ihrer Bluse flatterten nur so. »Ich höre die ganze Welt singen!«
    Grandpa kicherte glucksend. »Keine Autos mehr bis Sonntag«, versprach er, während er zum Kofferraum ging und ihr Gepäck herausnahm. Lily schnappte sich ihren Campingrucksack. Mom nahm unaufgefordert erst Grandpas scheußliches Jackett, dann ihre Handtasche vom Rücksitz. Lily und ihr Großvater musterten sie aufmerksam.
    Ihr Lächeln verrutschte. »Es geht mir gut. Ich werde euch euer Wochenende nicht verderben.«
    »Hier entlang«, sagte Grandpa und zeigte auf einen Pfad, der sich durch die Bäume schlängelte. »Wir werden schon erwartet.«
    Bis jetzt hatte er nichts davon gesagt, dass sie irgendjemanden treffen sollten. Lily warf ihren Rucksack über die Schulter und folgte ihm eilig über den Parkplatz. »Von wem denn?«, fragte sie.
    »Von allen«, erklärte ihr Großvater. Er sah sie an und grinste dabei übers ganze Gesicht. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
    Die letzte von Großvaters Überraschungen waren Schnecken zum Abendessen gewesen (Lily hatte eine probiert; Mom hatte
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