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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim
Autoren: Antje Babendererde
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Frühlingsbrise. Eine kleine Welle der Erleichterung überkommt mich. Bin ich doch zu Hause?
    Ich schicke einen Impuls an meine Hände, damit sie die Umgebung abtasten, aber die bleierne Schwärze liegt auf mir wie eine schwere Decke und ich kann mich nicht bewegen. Blind und gelähmt, dieser schreckliche Gedanke windet sich durch meinen pulsierenden Schädel wie eine Schlange und das Atmen fällt mir plötzlich schwer. Ich öffne und schließe meine Augen. Einmal, zweimal, dreimal – aber die Schwärze bleibt endgültig.
    Genauso dicht wie die Finsternis ist die Stille. Kein Laut dringt an mein Ohr. Es ist totenstill. Nur mein eigener Herzschlag dröhnt in meinen Ohren. Zu viel Dunkelheit, zu viel Stille.
    Unwillkürlich muss ich an diesen Film denken, »Buried – lebend begraben«, in dem ein Mann in einer Kiste unter der Erde erwacht. Kai und ich haben ihn vor einiger Zeit zusammen angesehen und ich spüre dasselbe klaustrophobische Gefühl wie damals in mir aufsteigen. Panik springt mich an wie ein wildes Tier, nur mit großer Mühe kann ich die Filmbilder zurückdrängen, damit sie sich nicht in meinem Kopf festsetzen.
    Jetzt nicht durchdrehen, Jola. Bleib ruhig und denk nach.
    Zuerst konzentriere ich mich ganz auf das Gefühl des Atmens. Zwinge mich, immer weiter ein- und auszuatmen. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Dann versuche ich, mit den Zehen zu wackeln. Es funktioniert. Ich balle meine Finger zu Fäusten, auch das funktioniert. Ich bin also nicht gelähmt. Aber wo bin ich und wie lange bin ich schon hier? In meinem ganzen Leben war es noch nie so still und so dunkel um mich herum.
    Meine Blase schmerzt, ich muss dringend pinkeln.
    Ich versuche, meinen rechten Arm zu heben, und stelle fest, dass ich tatsächlich bis zum Hals zugedeckt bin. Ich schiebe den Arm hervor und strecke ihn in die Dunkelheit. Zucke zusammen, als es plötzlich scheppert und ein schleifendes Geräusch den Raum erfüllt. Ich spüre einen leichten Luftzug und nehme den Duft von frisch geschnittenem Gras wahr.
    Wo bin ich?
    Der Schmerz in meinem Schädel geht vom Hinterkopf aus. Jemand hat mich niedergeschlagen, jetzt weiß ich es wieder. Und dann kommt auch alles andere: Ellis Sammy und das Blut in der Höhle. Die Männer im Wald, der Schuss, der Abdruck von Ellis Zähnen in einem Männerunterarm. Jemand hat mich niedergeschlagen, als ich auf den Kirschbaum klettern wollte. Jemand, der im wilden Garten auf mich gelauert hat. Jemand, da bin ich mir sicher, dessen Unterarm ein rotes Bissmal ziert.
    Mühsam schiebe ich die Decke von meinem Körper und setze mich auf. In meinem Schädel tobt ein Chaosorchester, das hämmert und klopft. Noch völlig benommen, Schritt für Schritt und mit nach vorn gestreckten Armen taste ich mich durch das Dunkel, bis meine Hände auf eine Wand stoßen.
    In den nächsten Minuten ertaste ich meine Umgebung. Ein kleiner Raum. Fünf Schritte von der Wand bis zum Bett. Zehn Schritte vom Tisch neben dem Bett bis zur Tür. Kaltes Eisen, keine Klinke, so verzweifelt ich auch danach suche. Zentimeter für Zentimeter taste ich mich an der Wand entlang, bis ich tatsächlich einen Lichtschalter finde.
    Meine Finger legen den Schalter um und die plötzliche Helligkeit lässt mich die Augen schließen. Ich zähle bis zehn, dann öffne ich sie wieder. Und muss mich an der Wand abstützen, denn ich spüre, wie alle Energie meinen Körper verlässt.
    Der kleine, längliche Raum hat rosafarbene Wände, die mit Kinderzeichnungen tapeziert sind. Die Bettwäsche auf dem Bett ist himmelblau mit kleinen weißen Wolken und bunten Kinderfiguren. Neben dem Holztisch steht ein weißes IKEA-Regal mit Büchern und Spielen. Halma, Mensch ärgere dich nicht, UNO.
    Links neben mir ein hellblauer Vorhang. Ich schiebe ihn zur Seite. Eine Dusche, ein Waschbecken, eine Toilette. Ohne groß darüber nachzudenken, setze ich mich und pinkele. Die Spülung funktioniert. Alles ist sauber. Frühlingsbrise.
    Tränen schießen mir in die Augen.
    Das leise Klappern kommt von den Lamellen eines Luftzirkulationssystems über dem Waschbecken. Ich gehe zurück in den kleinen Raum. Es ist keine Blackbox wie in diesem Film, ich bin in einem rosaroten Verlies gefangen, ohne Fenster, mit einer schweren Eisentür ohne Klinke.
    Die Angst, die ich so lange weggedrückt habe, schießt brutal in
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