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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung
Autoren: Philipp Möller
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Gespräch mit der Schulleitung einladen werden.
    Mit dieser Botschaft lasse ich ihn erst einmal sitzen und wende mich dann der Klasse zu. Ich zähle von drei runter: »Drei … zwei … eins!«
    Dank meiner monatelangen Konsequenz, die mich noch immer viel Energie kostet, rennen die Kids schnell auf ihre Plätze. Als ich demonstrativ auf den Stundenplan gucke, scheint die Klasse eine leise Ahnung zu bekommen und blickt mich erwartungsvoll an. Nur Samira steht noch auf dem Schlauch.
    »Ohaaaa, wo’s Frau Uhle?«, ruft sie erstaunt.
    Ich schaue suchend hinter die Tafel, in den Schrank und unter den Lehrertisch und erkläre Samira dann, dass ich sie nicht finden könne. Den Jubel auf die gute Nachricht, Frau Uhle als Deutschlehrerin losgeworden zu sein, unterbinde ich schnell mit den drei Kreisen an der Tafel und schärfe den Kids dann meine Regeln für den Deutschunterricht ein. Weil ich mir das Drohen abgewöhnen möchte, verzichte ich seit einer Weile ganz bewusst auf billige Wenn-dann-Formulierungen und teile den Schülern stattdessen einfach mit, welches Verhalten ich von ihnen erwarte.
    Wir beginnen den Deutschunterricht schließlich wie von Frau Uhle empfohlen mit Vorlesen. Zuerst lasse ich die Kids den Text zur Übung leise lesen und nehme dann Freiwillige dran. Die Ergebnisse sind in der Tat katastrophal. Unterm Strich könnte man sagen, dass die Buchstaben zwar in Laute ungeformt werden können, aber mit Lesen hat das nur wenig zu tun. Ein Großteil der Worte, die aus mehr als sechs Buchstaben bestehen, ist vielen Kids nicht bekannt, Interpunktionen werden vielfach ignoriert, und die Betonung ist entweder monoton oder falsch.
    Auch der Sinn des Lesens scheint sich den Kids nicht zu erschließen: Wenn ich nach kurzen Passagen nachfrage, können mir gerade mal zwei Kinder erklären, was im Text passiert. Wieder einmal wird mir klar, dass auch der Migrationshintergrund dabei kaum eine Rolle spielt. Ob deutsch oder türkisch, arabisch oder kroatisch: Das Niveau ist länderübergreifend unterirdisch.
    Die Einzigen, deren Performance ich überhaupt als Lesen bezeichnen würde, sind wie vermutet Amir und Cai-Thao. Alle anderen stammeln so, dass man sie zum Lesenlernen eigentlich wieder in die erste Klasse schicken müsste – und das, obwohl ich mich in einer Sechsten befinde und das Buch offiziell für die Klassenstufe vier gestaltet wurde.
    Ich bemühe mich, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen – schließlich hilft das auch niemandem weiter. Stattdessen lobe ich alle, die sich überhaupt getraut haben, etwas vorzulesen. Kurz vor der Pause geschieht etwas absolut Außergewöhnliches: Sebastian meldet sich. Ich fordere ihn leicht verwundert zum Lesen auf und mache mich auf das Schlimmste gefasst.
    Er räuspert sich kurz, beginnt mit dem Lesen und verschafft mir eine Art blaues Wunder – vielleicht das größte meiner bisherigen Lehrerkarriere. Bereits nach ein paar Worten wird klar: Er ist mit Abstand der beste Leser der gesamten Klasse! Mit Leichtigkeit liest er Zeile um Zeile, betont sämtliche Satzzeichen und verstellt sogar seine Stimme bei der wörtlichen Rede. Als er mit dem Absatz fertig ist, gucke ich ihn lobend an und trage ihm für seinen Vortrag eine Eins ins Klassenbuch ein. Ein Raunen geht durch die Klasse.
    Als die Stunde vorbei ist, rauschen die Kids in die Pause und klopfen Sebastian anerkennend auf die Schulter. Der weiß immer noch nicht so recht, wie ihm geschieht. Gemeinsam gehen wir zum Pausencafé, wo ich ihm zwei Brote und eine Apfelschorle kaufe. Auf dem Weg ins Sekretariat stopft er die Brote hungrig in sich hinein und wartet dann vor dem Büro, bis ich ihn hineinbitte.
    Drinnen drücke ich ihm den Telefonhörer und einen Zettel mit dem Termin für seine Mutter in die Hand und erinnere ihn daran, ihr auch von der guten Note zu erzählen.
    Nach ein paar Klingeltönen hebt sie ab.
    »Hallo Mama, ich bin’s.«
    Kurze Pause.
    »Na, ich, Sebastian!«
    Noch eine kurze Pause.
    »Dein Sohn!«
    Er verdreht die Augen und fordert seine Mutter auf, sich zusammenzureißen. Dann gibt er ihr den Termin durch und erzählt ihr von der Eins, was sie aber offensichtlich nicht mehr mitbekommt. Enttäuscht gibt er mir den Hörer zurück und flieht aus dem Sekretariat.
    Nun schaltet sich die Sekretärin ein.
    »Mensch, der Sebastian. Dit is’n armer Tropf, halt ebent. Ick habe schon oft mit der Mutter telefoniert …« Sie macht eine Trinkbewegung mit der Hand und fügt dann hinzu: »Halt
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