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Intrusion

Intrusion

Titel: Intrusion
Autoren: Will Elliott
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sodass er mit sechzehn von Auszeichnungen, ungebetenem Ruhm, Gastauftritten mit dem Staatsorchester, einem Beinahe-Sieg gegen den Schach-Landesmeister (den er durch seine Weigerung, die Partie abzuschließen, halb in den Wahnsinn trieb) und Stipendiumsangeboten völlig erdrückt war – ausgebrannt und bald darauf chronisch depressiv. Es folgten ein Jahr Psychiatrie, harte Drogen, Entzug, Obdachlosigkeit, Ladendiebstähle in Getränke- und Baumärkten … Er rutschte immer tiefer, bis er sich schließlich im Haus seiner Eltern die Pulsadern aufschnitt.
    Aden kratzte sich am Kopf, nachdem er diese Erinnerungen gesichtet hatte. Etwas stimmte nicht – genau genommen stimmte gar nichts. Die Bilder waren real, liefen vor seinen Augen ab wie ein anschaulicher Film. Aber die Handlung wies Lücken auf. Weshalb hatte er im Bad seiner Eltern Selbstmord begangen, wenn er zuletzt obdachlos gewesen war? Weshalb konnte er sich jetzt nicht mehr an die langen Shakespeare-Passagen oder die naturwissenschaftlichen Texte erinnern, die er angeblich einmal auswendig gelernt hatte? Und weshalb ließ sich ein Fünfjähriger, der bereits mit den Werken der klassischen Literatur vertraut war, von seinem Großvater Märchen vorlesen?
    Und haftete dem steilen Aufstieg und jähen Absturz nicht etwas Melodramatisches an? Der Stoff billiger Serien, für das Hausfrauen-Fernsehen zusammengeschustert von Leuten, denen nichts mehr einfiel. Wie von Endlos-Filmrollen spulte sich dieses unwirkliche Leben immer wieder vor Adens Augen ab, während er Mister Gorr, der mit seinem Riesenarm die Bürste umklammert hielt und von links nach rechts über die Leinwand schmierte, ermutigende Worte zuraunte. »Sehr gut. Schönes Rot. Das Rot gefällt mir. Das wird ein wunderbares Herz. Elegant geschwungen. Romantisch, würde ich sagen. Und rot, herrlich rot.«
    »Guter Junge!«, rief Mister Gorr.
    »Eine Frage, Mister Gorr. Wo genau befinden wir uns eigentlich?«
    »Im Bad«, raunzte Mister Gorr.
    »Yeah, aber auf welchem Fleck der Erde? Angenommen, wir hätten eine Landkarte mit einem Pfeil, der anzeigt, wo wir gerade sind, wie hieße dann die Gegend hier?«
    »Gegend?«
    »Distrikt. Staat. Stadt. Dorf. Planet. Welt.«
    »Dorf! Nennt sich Days Past.« Mister Gorr lachte, vermutlich über Adens Unwissenheit.
    »Also gut. Days Past.« Er trommelte mit den Fingerspitzen auf seinem Knie herum. »Und noch etwas. In der Diele am unteren Ende der Treppe hängt ein Bild an der Wand. Ein älterer Mann mit Brille. Eine Zeichnung. Sie wissen, wen ich meine?«
    Mister Gorr nickte.
    »Das ist mein Großvater«, sagte Aden. »Warum hängt da unten ein Bild meines Großvaters?«
    Mister Gorr zog die Stirn kraus. »Hrm! Großvater? Unsinn! Mag sein … die Ohren des großen Alten, mein Junge. Aber Großvater … nein, nein!« Er lachte gutmütig, als wäre er gewillt, den Spaß mitzumachen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Gemälde zu. Vor lauter Konzentration kam seine Zungenspitze zwischen den Wulstlippen zum Vorschein.
    Aden kratzte sich am Kopf. »Lebt er hier, der Mann auf dem Bild? In dem Dorf Days Past?«
    »Hier leben!« Mister Gorr lachte dröhnend. »Ich fass es nich’! Bist ’n echter Witzbold, mein Junge! Jetzt aber schsch! Höchste Zeit für das besondere Rot.« Mister Gorr schraubte das Glas mit dem Blut auf. »Corberts Blut«, flüsterte er grüblerisch. »Aye, genau … Corbert sei gepriesen, er hat genug davon. Gibt dafür morgen weniger ab, versteht sich. Morgen weniger.« Behutsam umrandete Mister Gorr das Liebesherz mit dem tieferen Rot.
    Aden legte sich in die Badewanne, verschränkte die Arme als Kissen hinter dem Kopf und schlug die Beine übereinander. Mister Gorrs Gemurmel und das hypnotische Tropfen des Wasserhahns ließen ihn bald in den Schlaf hinüberdämmern. Er merkte nicht, dass Mister Gorr auf Zehenspitzen das Bad verließ und kurz darauf mit einer stinkenden Decke wiederkam, die er fürsorglich über ihn breitete.
    Aden versank in den Todesanzeigen einer gigantischen Zeitung, die sich in einen Whirlpool verwandelt hatte. Buchstaben sprangen wie Fische aus dem Wasser und schnappten nach ihm, als er sie abzuwehren versuchte. Sie bildeten immer wieder seinen Namen und das Wort VERSTORBEN . Die Farbe des Himmels war ein sauberes Krankenhausweiß. Aus dem Himmel fielen Uhren wie Regentropfen und klatschten in den Wasserwirbel, während eine weibliche Stimme gemessen wie ein gespenstischer Synthesizer die Worte »Tick Tack« sang.
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