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Instrumentalität der Menschheit

Instrumentalität der Menschheit

Titel: Instrumentalität der Menschheit
Autoren: Cordwainer Smith
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und Cherpas besucht haben sollte. Es wurde sogar gemunkelt, daß Bulganin bei seiner Fahrt zum Flughafen von Charkow, von wo aus er nach Moskau zurückfliegen wollte, sagte: »Es ist groß, groß, groß. Wenn sie es schaffen, wird es keinen kalten Krieg mehr geben. Dann wird es überhaupt keinen Krieg mehr geben. Wir werden den Kapitalismus besiegen, noch bevor die Kapitalisten zu kämpfen beginnen können. Wenn sie es schaffen. Wenn sie es schaffen.« Es gab Berichte, daß Bulganin langsam und verblüfft mit dem Kopf geschüttelt und nichts weiter gesagt haben sollte, sondern das unveränderte Budget des Projektes Teleskop mit seiner Unterschrift versah, als ihm ein zuverlässiger Bote das nächste Mal einen Brief von Rogow brachte.
    Anastasia Cherpas wurde Mutter. Ihr erster Junge sah aus wie sein Vater. Ein kleines Mädchen folgte. Dann ein weiterer kleiner Junge. Durch die Kinder wurde Cherpas’ Arbeit nicht unterbrochen. Sie verfügten über eine große Datscha und ausgebildete Kinderschwestern, die den Haushalt führten.
    Jeden Abend speisten die vier gemeinsam.
    Rogow russisch, humorvoll, mutig, amüsiert.
    Cherpas älter, weiblicher, schöner denn je, aber genauso verletzend, genauso glücklich, genauso scharfzüngig wie in der Vergangenheit.
    Aber dann die beiden anderen, die beiden, die ihnen im Lauf der Jahre Tag für Tag gegenübersaßen, die beiden Kollegen, mit denen sie durch das allmächtige Wort Stalins gestraft worden waren.
    Gausgofer war eine Frau: blutleer, schmalgesichtig, mit einer Stimme, die an das Wiehern eines Pferdes erinnerte. Sie war Wissenschaftlerin und Polizistin und in beiden Berufen sehr tüchtig. 1917 hatte sie den Aufenthaltsort ihrer eigenen Mutter an ein Terroristenkommando der Bolschewiki verraten. 1924 hatte sie die Hinrichtung ihres Vaters befohlen. Er war ein Deutschrusse von altem, baltischem Adel gewesen und hatte versucht, sich dem neuen System anzupassen, aber es war ihm nicht gelungen. 1930 hatte sie dafür gesorgt, daß ihr Geliebter ihr ein wenig zuviel vertraute. Er war ein rumänischer Kommunist gewesen und hatte einen hohen Rang in der Partei erklommen, aber in der Abgeschiedenheit ihres Schlafzimmers hatte er in ihr Ohr geflüstert, während Tränen seine Wangen hinunterrollten; aufmerksam und stumm hatte sie zugehört und am nächsten Morgen seine Worte an die Polizei weitergeleitet.
    Dadurch war Stalin auf sie aufmerksam geworden.
    Stalin hatte barsch mit ihr gesprochen. Brutal hatte er sie gefragt: »Genossin, du hast Verstand. Ich kann erkennen, daß du weißt, um was es sich beim Kommunismus handelt. Du begreifst, was mit Loyalität gemeint ist. Du wirst weitermachen und der Partei und der Arbeiterklasse dienen – aber ist das alles, was du willst?« Er hatte ihr die Frage ins Gesicht gespuckt.
    Sie war so verblüfft gewesen, daß sie aufkeuchte.
    Der alte Mann hatte sein Verhalten geändert und sie mit schlitzohriger Großmütigkeit gefördert. Er tippte ihr mit dem Zeigefinger an die Brust. »Studiere die Wissenschaften, Genossin. Studiere die Wissenschaften. Kommunismus plus Wissenschaft bedeutet den Sieg. Du bist zu klug, um im Polizeidienst zu bleiben.«
    Gausgofer empfand widerwilligen Stolz für das teuflische Programm ihres deutschen Namensvetters, jenes verhutzelten alten Geografen, der die Geografie selbst in eine schreckliche Waffe für den Kampf der Nazis gegen die Sowjets verwandelte.
    Gausgofer konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als sich in die Ehe von Cherpas und Rogow einzumischen.
    Gausgofer verliebte sich in Rogow, sobald sie ihn sah.
    Gausgofer haßte Cherpas – und Haß kann ebenso spontan entstehen und geheimnisvoll sein wie Liebe –, kaum daß sie Cherpas sah. Aber Stalin hatte auch das vorausgeahnt.
    Der blutleeren, fanatischen Gausgofer hatte er einen Mann namens B. Gauck zur Seite gestellt.
    Gauck war massig, geduldig, ausdruckslos. Körperlich war er ebenso groß wie Rogow. Wo Rogow Muskeln besaß, war er schlaff. Wo Rogows Haut gesund war und die rosige, frische Farbe aufwies, die viel Bewegung verschafft, war Gaucks Haut wie ranziges Schmalz, schmierig, graugrün, kränklich selbst dann, wenn es ihm gutging.
    Gaucks Augen waren leer und klein. Sein Blick war so kalt und hart wie der Tod. Gauck besaß keine Freunde, keine Feinde, keine Überzeugungen, keine Begeisterung. Selbst Gausgofer fürchtete sich vor ihm.
    Gauck trank niemals, ging niemals nach draußen, erhielt nie Post, schickte nie Briefe ab, sprach nie ein
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