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Insel der Träumer

Insel der Träumer

Titel: Insel der Träumer
Autoren: Horst Hoffmann
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lauerte und die Menschen in ihrem schrecklichen Bann hielt.
    Innerlich bereitete Mythor sich auf das vor, was er sehen würde, wenn er über den Rand des Felsens kletterte. Und doch traf ihn der Anblick, der sich dann seinen Augen bot, mit solcher Gewalt, dass er für die Dauer einiger Herzschläge an seinem Verstand zweifelte. Es war viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Mythor schob sich über den Rand des Felsens und stand auf kahlem, schmutziggrauem Boden, aus dem die Wurzeln der Bäume herausstießen. Und was für Bäume waren das!
    Die Früchte, die sich ihm noch vorhin verlockend entgegenstreckten, waren hässlich und vom Schimmel zerfressen. Inzwischen war es Nacht geworden, doch der fast volle Mond spendete genug Licht, um Mythor alle Einzelheiten der Landschaft erkennen zu lassen, die wie aus tiefsten Alpträumen entsprungen wirkte.
    Die halbverfaulten Früchte schoben sich ihm auch jetzt entgegen, und Mythor wich angeekelt vor ihnen zurück. Sie hingen an knorrigen, kahlen Ästen. Die Stämme der Bäume waren gespalten, und Ungeziefer hauste in ihnen. Mythor brachte sich durch einige schnelle Sprünge in Sicherheit, als fingerdicke Käfer mit scharfen Scheren an ihm emporklettern wollten. Das Gebüsch, das die berauschend schönen Blüten getragen hatte, hatte sich in Dornensträucher verwandelt, der Duft der nicht mehr vorhandenen Blüten in einen abscheulichen Gestank, der Brechreiz hervorrief. Wie schreckliche Dämonen ragten die knorrigen Äste in den sternenübersäten Himmel, der im Süden von einem glühenden Band überzogen war. Sie streckten Mythor ihre Arme entgegen, ihre Klauen, ihre grässlichen Mäuler.
    Der Sohn des Kometen begann zu rennen, doch wohin er kam, fand er das gleiche Bild vor. Die Tiere des Waldes, die so viel Anmut ausgestrahlt hatten, waren dürr und blickten ihn aus leeren Augen an. Nur ein Verhungernder, der sie so sah, wie sie waren, würde von ihnen einen Bissen hinunterwürgen können. Mitleid regte sich in Mythor, denn er begann zu ahnen, dass diese Kreaturen nur dazu da waren, um die Menschen zu ernähren, zu…
    … mästen?
    Mythors Gedanken gerieten in Aufruhr. Was er da dachte, konnte nicht wahr sein. Welche dämonische Macht auch immer irgendwo im Dunkel lauerte, ihr musste es um die Seele der Menschen gehen, die sie zu sich holte, um die Lebenskraft ihrer Opfer.
    Mythor rannte weiter, ohne Pause, über kahlen, holprigen Boden und aus der Erde ragende Wurzeln. Die Dornen der Büsche brachen ab, wenn er mit ihnen in Berührung kam. Kein Kratzer erschien auf seiner Haut.
    Der Sohn des Kometen begriff, dass alles, jede Pflanze und jedes Tier auf dieser Insel, ebenso unter dem Bann der unheimlichen Macht stand wie die Männer, Frauen und Kinder. Der Gedanke an die Kinder machte ihn rasend. Wurden sie nur in diese Welt hineingeboren, um eines Tages dem Ruf des Bösen zu folgen und seine Gier nach Lebenskraft zu stillen? Waren sie schon zum Sterben verurteilt, sobald sie den ersten Schrei taten?
    Mythor blieb abrupt stehen. Was war Wirklichkeit, was Trugbild? Gab es denn diese Insel überhaupt, oder sah er immer noch etwas, das gar nicht vorhanden war?
    Er trat mit voller Wucht gegen einen Baumstamm, dass die schwarze Borke absplitterte. Der Schmerz in seinem Fuß war ihm Antwort genug. Alles schien sich plötzlich um ihn herum zu drehen. Mythor klammerte sich an einem tief hängenden Ast fest. Er sah einige halbverfaulte Früchte vor sich und schlug danach. Sie fielen ab und zerplatzten auf dem Boden, worauf ein dicker gelber Saft zwischen den Schalen austrat. Der Geruch ließ Mythor würgen.
    Aber diese Früchte waren essbar und das Fleisch der Tiere zart und schmackhaft – jedenfalls in den Augen derer, die sich davon ernährten. Die Menschen wurden von seinem Genuss nicht krank. Niemand hungerte. Und was war mit den Fischen, die ihnen in die Netze sprangen? Reichte die Macht des Unheimlichen bis in den Strudel hinein?
    Mythor hastete weiter, sah kaum noch, was um ihn herum aus dem Boden wuchs und sich dazwischen bewegte. Der Boden war unfruchtbar. Was also nährte die Pflanzen und Tiere? Er konnte sich nicht daran erinnern, eines von ihnen jemals etwas fressen gesehen zu haben.
    All diese leeren Augen schienen sich jetzt auf ihn zu richten. Die knorrigen Äste streckten sich nach ihm aus. Der Boden verwandelte sich in einen schwarzen Schlund. Mythor fiel und hätte sich die Knie blutig schlagen müssen, doch seine Hände glitten über weiches Moos, wo nur
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