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Insektenstachel

Insektenstachel

Titel: Insektenstachel
Autoren: André Minninger
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daran hängt. Sie sind doch auch noch zu jung, um in ein Altenheim zu übersiedeln.«
    Mrs Hazelwoods Finger begannen zu zittern. »Willst du den wahren Grund wirklich wissen?«
    Justus nickte. Stumm nahm die Dame die Sonnenbrille vom Gesicht und öffnete ihre Augen. Als Justus hineinsah, spürte er, wie der Boden unter ihm wegzusacken drohte. Ihm wurde schwindelig. Mrs Hazelwoods Augen waren als solche nicht mehr zu erkennen. Sie hatten keine Pupillen und keine Iris. Nur zwei weiße Kugeln, die ins Nichts zu starren schienen. Mrs Hazelwood war blind.

Entsetzen
    Justus konnte den Anblick nicht lange ertragen. Er ging ihm durch Mark und Bein. Für einige Sekunden schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich Mrs Hazelwood die Sonnenbrille bereits wieder aufgesetzt. Er atmete tief durch und blickte zu Onkel Titus hinüber. Seinem Onkel schien die schonungslose Demonstration ebenfalls die Sprache verschlagen zu haben.
    »Verzeihung«, flüsterte die Dame in die eingetretene Stille. »Aber ich bin verbittert und fühle mich so machtlos. Die Ärzte konnten mein Augenlicht nicht mehr retten. Ich werde für den Rest meines Lebens blind sein.« Sie schluckte. »Ich kann mich so schwer damit abfinden.«
    Augenblicklich wurde Justus klar, weshalb Mrs Hazelwood die Bücher loswerden wollte. Und als hätte sie seine Gedanken erraten, setzte sie sogleich zur Erklärung an.
    »Die Welt der Buchstaben hat sich vor mir verschlossen. Den Schlüssel werde ich nicht zurückerhalten. Nie wieder. Ich kann die Bücher nicht mehr ertragen! Ihr Vorhandensein in diesem Haus macht mich krank.«
    Justus musste insgeheim an den kostbaren Hitchcock-Bildband denken. Hier in einer der Umzugskisten wartete das Buch darauf, den Besitzer zu wechseln. In Gedanken malte er sich bereits einen Ehrenplatz in seiner eigenen Bibliothek aus. Dennoch war ihm bewusst, wie schwer es Mrs Hazelwood fiel, sich von den Büchern zu trennen. Er war nicht sicher, ob er unter den gegebenen Voraussetzungen überhaupt Freude über den Erhalt des kostbaren Bildbandes empfinden konnte.
    »Das meiste Wissen habe ich mir angelesen.« Die Dame stand in der Mitte des Raumes und deutete auf die Kisten. »Das Alphabet besteht aus nur sechsundzwanzig Buchstaben. Dazu kommen diverse Satzzeichen: Komma, Doppelpunkt, Ausrufungszeichen, Fragezeichen, Punkt und dergleichen mehr. Diese Schriftsymbole genügen, um alles mit ihnen Beschriebene plastisch vor dem geistigen Auge entstehen zu lassen. Jedes geschriebene Wort setzt sich aus verschiedenen Buchstaben des Alphabets zusammen – in unendlichen Variationen. Im Geiste fügt sich beim Lesen ein Bild zusammen. Ein Gemälde. Das kostbarste Gedankengut. Und jetzt bin ich blind. Seit einem halben Jahr. Eine Erbkrankheit. Ich blieb nicht vor ihr verschont. Ich werde nie wieder lesen können!«
    Onkel Titus räusperte sich verunsichert. »Aber es gibt doch die Blindenschrift, Madam. Die Finger können das Alphabet ebenso ertasten wie die Augen.«
    »Sie wissen, dass diese Art von Schrift ein erbärmlicher Ersatz ist. Die Kommunikation zwischen Blinden und Sehenden funktioniert schlecht.« Mrs Hazelwood rückte ihre dunkle Brille zurecht. »Bis die Medizin so weit ist, uns das Augenlicht zurückzugeben, liege ich längst unter der Erde.«
    Erst jetzt besah sich Justus die Dame näher. Er wusste, dass sich das Alter am ehesten an den Händen ablesen ließ. Er schätzte sie auf Mitte sechzig. »So früh stirbt es sich nicht«, gab er aufmunternd von sich.
    Mrs Hazelwood versuchte zu lächeln. Dennoch war ihr Gesicht von Traurigkeit überschattet. »Danke für die Schmeichelei. Ich muss der Tatsache jedoch ins Auge sehen: Mein Schicksal ist unabänderlich. Die Bücher schnüren mir die Luft ab. Nehmen Sie sie mit!«
    Onkel Titus zupfte an seinem Schnurrbart. »Gestatten Sie, Madam. Ich betreibe zwar einen Gebrauchtwarenhandel; dabei handelt es sich aber hauptsächlich um Schrott und Trödel. Als solchen kann man diese Bibliothek auf keinen Fall bezeichnen. Ich wage zu bezweifeln, dass ich der richtige Abnehmer für diese Kunstschätze bin. Zumal ich Ihnen nur einen Bruchteil dessen zahlen könnte, was diese Bücher tatsächlich wert sind.«
    »Dann nehmen Sie sie in Kommission. Sie brauchen mir das Geld erst zu geben, wenn Sie die Bücher verkauft haben«, erwiderte die Dame. Dabei verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken.
    »Warum haben Sie sich nicht an ein Buchantiquariat gewandt?«, versuchte Justus in Erfahrung zu
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