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Inferno

Inferno

Titel: Inferno
Autoren: Edward Lee
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Musik wurde plötzlich dreimal so laut, als sie hinter Lissa durch die Tür trat. Anti-Christ, Superstar , hatte jemand an die Tür gesprüht, und daneben Lucretia My Reflection .
    Bald darauf standen die Schwestern mitten in dem überfüllten Club. Die wogende Masse schwarz gekleideter Gestalten tanzte enthemmt zu ohrenbetäubender Musik. Heute war Oldies Night: Killing Joke, Front 242,.45 Grave und so weiter. Cassie hatte schon immer die Bands bevorzugt, von denen die Bewegung begründet worden war, statt dem poppigen Zeug, das nun ihr Ende einläutete. Blendend weißes Stroboskoplicht zerhackte die Szene auf der Tanzfläche in eine Abfolge von Standbildern. Nacktes Fleisch und schwarzer Stoff. Vampirgesichter und blutrote Lippen. Unmenschlich weit aufgerissene Augen, die niemals zu blinzeln schienen. In Käfigen über den Köpfen der Menge tanzten Goth-Mädchen mit ausdruckslosen Gesichtern, mehr oder weniger ausgezogen. In den stilleren Ecken hatten sich Pärchen zurückgezogen, die sich wild und hemmungslos leidenschaftlichen Küssen ergaben. Wellen dröhnender Musik erschütterten den Raum.
    Cassie fühlte sich sofort wie zu Hause.
    »Hier rüber!« Ihre Schwester zog sie an der Hand durch die dichte Menge. Als sie sich etwas vom Gedränge der Tanzfläche entfernt hatten, wandten sich ihnen mehr und mehr Köpfe zu.
    Na klar , dachte Cassie mürrisch.
    Sie und Lissa waren eineiige Zwillinge. Man konnte sie nur an winzigen Kleinigkeiten unterscheiden: Jede von ihnen hatte sich einen weißen Streifen in die ansonsten identisch glatten schwarzen Haare gefärbt, Cassie auf der linken Seite, Lissa auf der rechten. Der einzige andere Unterschied war der zierliche Stacheldraht, den Lissa um den Nabel tätowiert hatte. Cassies Nabel hingegen zierte ein filigraner halber Regenbogen. Aber es war Lissa, die immer darauf bestand, dass sie sich exakt gleich anzogen, wann immer sie heimlich in einen Club gingen. Exakt gleiche schwarze Samthandschuhe, exakt gleiche kurze schwarze Krinolinenröcke und schwarze Spitzenblusen. Selbst ihre Stilettos und die Handgelenktäschchen aus Ziegenleder waren exakt gleich. Ihren Vater trieb das in den Wahnsinn, doch selbst Cassie begann es allmählich zu langweilen; zudem schien es die allgemeine Aufmerksamkeit nie auf sie selbst zu lenken, immer nur auf Lissa.
    Heute Abend hing sie diesem Gedanken nicht weiter nach; solche Grübeleien führten zu nichts als dem Kern ihres eigenen mangelnden Selbstwertgefühls und gestörten Selbstbilds, das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt. Manchmal kochte ihr stiller Neid auf Lissa zu wahrem Hass hoch; sie würde nie verstehen, wie zwei Menschen, die sich äußerlich so ähnlich sahen, so unterschiedliche Persönlichkeiten haben konnten. Lissa, extrovertierter Männermagnet und Partygirl; Cassie, griesgrämiges Mauerblümchen. Fünf Jahre Psychotherapie und einige Monate stationär in einer psychiatrischen Klinik gaben ihr gerade eben genug Kraft, um weiterzumachen. Doch es war ja nicht nur Lissa, es war alles um sie herum. Es war die ganze Welt.
    Verflucht noch mal , schalt sie sich selbst. Jetzt versuch doch wenigstens mal, dich zu amüsieren .
    Irgendwann hatten es die Schwestern an die Bar geschafft. »Sieht aus, als wäre heute unser Glückstag!«, rief Lissa, immer noch Cassie im Schlepptau.
    »Was?«
    »Radu arbeitet. Das heißt, wir können umsonst trinken.«
    Radus richtiger Name war Jim; aber er kam nicht von seinem Vampirtrip runter, obwohl das inzwischen für echte Goths ein Stigma war. Sein Oberkörper war nackt und der Kopf geschoren, er sah aus wie Max Schreck in Nosferatu – nur mit Muskeln. Er und Lissa waren schon seit ein paar Monaten zusammen, doch wie ernst es zwischen ihnen war, blieb Cassie ein Rätsel. Radu musste von Lissas zweifelhaftem Ruf an der Schule wissen, und Cassie vermutete, dass sich auch ihre Technik, die Schlange vor dem Einlass zu umgehen, unter den männlichen Mitarbeitern des Clubs herumgesprochen hatte.
    »Willkommen im Goth House, meine Damen«, begrüßte Radu sie und schob ihnen zwei Dosen Holsten hin. Lissa beugte sich sofort über die Theke, um ihn zu küssen, und gewährte ihm dabei tiefe Einblicke in ihr Dekolletee. Cassies Wangen färbten sich vor Verlegenheit rosa, als der Kuss sich in eine wilde Zungenschlacht verwandelte. »Meine Güte«, sagte sie lauter als nötig. »Ihr zwei klingt wie ein paar Bernhardiner am Chappi-Napf.«
    »Meine kleine Schwester ist nur neidisch«, flüsterte Lissa Radu
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