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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition)
Autoren: Clemens J. Setz
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ihre Arme hoben, als würden sie mit einer Schusswaffe bedroht. Die Geste half ihm, sich vorzustellen, wie es sein müsste, tatsächlich mit einem Gewehr auf sie zu feuern. Die Rauchwolke, der Rückstoß, der plötzlich aufplatzende Bauchraum, der Nachhall des Schusses.
    – Sie machen doch nur Ihre Arbeit, sagte Robert in einem versöhnlichen Ton.
    – Äh, also … Ja, ich schätze …
    Robert musste sich zurückhalten. Ein kleines Fenster in der Aufmerksamkeit des Technikers hatte sich geöffnet. Er hätte jetzt mit ihm spielen können. Dieses Aufmerksamkeitsfenster, er kannte es, spürte den Luftzug, der von ihm kam. Nur noch ein, zwei wohlplatzierte Sätze, und der Typ würde vielleicht sogar weinen.
    Vielleicht ein andermal.
    – Finden Sie, dass es ihm ähnlich sieht?
    – Was?
    – Das Bild. Hier, sehen Sie.
    Robert drehte die Leinwand etwas zur Seite, so dass der Techniker nur noch den Hals recken musste. Nur nicht zu viel zeigen, die Kontrolle bewahren. Das Fenster stand immer noch offen. Die Gesichtszüge des Technikers wirkten eingeschüchtert, wie bei einem Kind, das einen fremden Erwachsenen nach der Uhrzeit oder dem Heimweg fragt.
    – Mhm, nickte der Techniker.
    – Ähnlich?
    – Ja.
    – Aber nicht fotorealistisch, oder? So male ich nämlich nicht.
    – Wie ein Foto? Nein, ich schätze, es sieht nicht wie ein Foto aus.
    – Wunderbar, sagte Robert.
    Er genoss die wachsende Beunruhigung, die der Labortechniker ausstrahlte. Es war wie dieser extrem hohe, sirrende Ton, den eingeschaltete Fernsehbildschirme von sich gaben. Als er mit einundzwanzig Jahren zum ersten Mal an einer ganzen Wand solcher Geräte vorbeigegangen war, hatte es ihn fast umgeworfen.
    Er überlegte, ob er einen Satz sagen sollte, der den Techniker vollends entsetzen, aber dennoch zur stummen Kenntnisnahme und Untätigkeit verurteilen würde, etwas Seltsames und zugleich Folgerichtiges, etwas wie: Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass der Himmel draußen rot geworden ist? Oder: Haben Sie jemals Gott in Ihr Leben gelassen? Es war so einfach. Er musste nicht einmal das Gesicht des Technikers anschauen.
    – Wie heißt er?
    – Der Affe? Didi.
    – Schöner Name, sagte Robert.
    Und er fügte, in der deutschen Synchronstimme von Adam West, hinzu:
    – Da siehst du, Robin, es ist immer wieder wichtig, Tieren einen Namen zu geben. Denn sie sind unsere Freunde.
    Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte der Techniker:
    – Hm, das ist witzig. Malen Sie eigentlich auch nach Fotos?
    An seiner gefassteren Stimme, das Angstfenster schloss sich langsam wieder, hörte Robert, dass er seine Zigarette zu Ende geraucht hatte. Nichts bringt das Selbstvertrauen so schnell zurück wie das Ausdrücken einer Zigarette, während die Welt sich um ihre Achse dreht und irgendwo weit entfernt Sonnen zu roten Zwergen zusammenschrumpfen.
    – Ich habe fotografiert, sagte Robert. Manchmal. Aber ich hab damit aufgehört, seit mir irgendein Irrer seine Fotos schickt. Vor einem Jahr oder so hat das angefangen. Die kommen einfach mit der Post. Immer von einem anderen Absender, natürlich alle erfunden, nichtexistent.
    – Krass, sagte der Techniker. Was ist auf den Bildern?
    Robert ging blitzschnell einen Katalog des Unheimlichen durch, Sexualakte zwischen gesichtslosen Wesen, Nahaufnahmen von menschlicher Haut, Fotos der eigenen Wohnung, aus unmöglichen Winkeln aufgenommen, Fotos von Verwandten, die längst tot sind, Fotos von Leichen auf Operationstischen – aber dann sagte er doch die Wahrheit:
    – Ach, nichts Besonderes, einfach nur Landschaftsaufnahmen. Allerdings komisch verwischt, alle Details verschwommen. Man sieht nur das große Ganze.
    Der Techniker gab einen anerkennenden Zischlaut von sich, die unartikulierte Version von krass .
    – Meiner Freundin machen die Briefe Angst, murmelte Robert. Aber gut, das …
    Er schwieg und ließ den Pinsel sein uraltes Flüsteridiom sprechen.
    Die wunderbare innere Ruhe, die erste seit sehr langer Zeit, verrauchte sofort, als er aus dem Gebäude trat. Neunundzwanzig Jahre auf dem Planeten und davon wahrscheinlich insgesamt vier Stunden vollkommene Ruhe. Während der Jahre in der Helianau waren es insgesamt bestimmt nicht mehr als drei Minuten gewesen. Schlaf nicht mitgerechnet.
    Das Gemälde musste er mit einiger Vorsicht bis zum Auto tragen, aber diese Vorsicht war auf den letzten Schritten so schwer aufrechtzuerhalten, dass er das Bild am liebsten wie ein Frisbee von sich geschleudert hätte.
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