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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Autoren: Oliver Schulz
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zwischenmenschlicher Fürsorge. Am liebsten würde ich noch eine ganze Woche in Tirunelveli bleiben.

Straßenhunde
    Das Land nördlich der Stadt ist karg und arm. Aus offenen, sonnenverbrannten Flächen ragen Tamarinden und Phönixpalmen. Am Straßenrand sitzen Familien in Behausungen aus Plastiktüten und Gestrüpp. Auf jämmerlichen Märkten halten bettelnde Kinder die Hand auf.
    Am Vormittag des dritten Wandertages erreiche ich einen Ort namens Devarkulam. Er sieht aus wie komplett von einer zentimeterdicken Rußschicht bedeckt. Alles ist schwarz oder wenigstens grau. Niedrige Holzhäuser und Schuppen sind mit schwarzer Folie abgedichtet, schwarze Schweine wühlen in der vertrockneten Gosse, in der Plastiktüten über schwarzes, halb zersetztes Laub flattern.
    »Aus diesem Dreckloch will jeder raus«, flucht der bucklige Brillenträger, der sich zu mir an den Tisch des einzigen Straßenrestaurants setzt. Meine Mineralwasserflasche klebt auf dem verschmierten Holztisch fest. »Hier wohnen Kastenlose. Wir arbeiten bei den Landbesitzern. Aber wenn die Reissaison vorbei ist, wenn die Zementfabriken keine Aufträge mehr haben, sind wir arbeitslos.« Er habe einen Bruder sagt der Mann und wirft mir einen komplizenhaften Blick zu, der arbeite in Singapur. »Früher hat er in Dubai Autos repariert, aber dann gab es da auch keine Arbeit mehr. Hast du einen Job für mich? In Deutschland, meine ich?«
    Ich weiche seinem Blick aus und schaue zu dem aus Blechkanistern gedengelten Kochtresen, wo ein schmächtiger Jüngling
mit einem Handtuch als Turban in einem dampfenden Zwanzig-Liter-Topf rührt. Ich bestelle, zweifelnd, ob es meiner Gesundheit zuträglich ist, eine Mahlzeit aus Curry und Fladenbrot. Mein Gegenüber plappert weiter.
    »Ich bin Witwer, meine Frau und mein einziges Kind sind vor vier Jahren von einem Bus auf dem Highway überfahren worden«, sagt er und schiebt seine überdimensionale Brille die behaarte Nase hoch. »Ich hatte einen festen Job als Ingenieur in einer Plastikfabrik in Madurai. Aber nach ihrem Tod habe ich angefangen zu trinken. Dann habe ich mich taufen lassen. Bist du auch Christ?« Während er spricht, versammelt sich eine kleine Anzahl Männer in dem Straßenrestaurant. Die Besucher gucken nicht direkt zu mir herüber, wenn sie wie zufällig durch die niedrige Tür unter dem dunkelgrauen Wellblechdach hereinschlendern und sich an die umstehenden Tische setzen, ohne irgendetwas zu bestellen. Sie hocken schweigend auf den Bänken und werfen mir nur gelegentlich scheue Blicke aus den Augenwinkeln zu.
    Bei allem Verständnis für die Sorgen des Mannes beschließe ich, meinem Gefühl zu folgen und möglichst schnell hier wegzukommen. Ich schlinge das Essen herunter und stehe auf.
    »Nimm mich mit nach Deutschland«, sagt der Mann. »Du hast viel Geld, du hast einen dicken Rucksack, gute Schuhe, die Kamera da.« Er zeigt auf die Tasche an meinem Hüftgurt und hält meinen Arm fest.
    »Und was willst du dort machen?«
    »Vielleicht laufe ich einfach nur durch. So wie du durch Indien.«
    »Das wäre nicht ganz ungefährlich«, rutscht mir heraus. »Nicht alle Deutschen sind so freundlich zu Ausländern wie die Menschen hier.« Ich schäme mich für diese drastische Aussage.
Dafür, dass ich ihn einfach nur loswerden will. Aber ich ertrage den Dreck und das Elend nicht länger.
    Hinter Devarkulam wird die Steppe immer häufiger von Kanälen durchbrochen, von satten, grünen Reisfeldern, an die einzelne wohlhabende Siedlungen gepflanzt wurden. Hier sprudeln stählerne Handbrunnen vor schmucken Villen. Ununterbrochen, als hätten die Bewohner es nicht nötig, sie abzudrehen. Jetzt wechseln sich satte Felder und verbranntes Land ab. Feldarbeiter schenken mir frisch geerntete Karotten. Ich trinke Tee mit Kleinbauern, die ihre Linsenernte auf der Straße ausgebreitet haben und sie von den vorbeirasenden Lkw dreschen lassen.
    In der Stadt Sankarankovil schlafe ich in einer Herberge, die wie eine Haftanstalt wirkt. In den langen Gängen des Hotel Bombay ist Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Auf dem Steinboden kloppen Hausangestellte Karten. Die Wände meines Zimmers sind von einer stumpfen, leicht feuchten Beschaffenheit und zum Gang hin mit zerschlagenen Holzfenstern besetzt. Der Boy bringt das Abendessen in vier warmen, durchsichtigen Plastiktüten. Darin schwimmen Linsensuppe, Hähnchen- und Fischcurry. Er legt die Tüten auf das dreckige Betttuch, lächelt versonnen und sagt inbrünstig » I love you
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