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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen
Autoren: Anne Perry
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durch den Raum, durch dessen hohe Fenster das Sonnenlicht fiel. »Lucius, vielleicht möchtest du deine Mutter sehen…?« Es war ein höflicher und beiläufig vorgebrachter Vorschlag, der dem jungen Mann einen Vorwand liefern sollte, um sich zu verabschieden.
    Lucius zögerte, denn es fiel ihm offensichtlich schwer, sich von dem einzigen Thema loszureißen, das ihn im Augenblick bewegte.
    »Sie hat dich vermisst«, hakte Stourbridge nach. »Es würde sie sicher freuen zu hören, dass Mr. Monk uns helfen will.«
    »Ja… ja, natürlich«, pflichtete Lucius ihm bei. Dann sah er Monk mit dem Anflug eines Lächelns an, ging durch den Raum und zog die Tür hinter sich zu.
    Harry Stourbridge wandte sich zu Monk um und das Sonnenlicht, das auf sein Gesicht fiel, zeichnete die feinen Linien nach und ließ seine Müdigkeit deutlicher zu Tage treten.
    »Fragen Sie, was Sie wollen, Mr. Monk. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Miriam zu finden, und ihr, wenn sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt, alle erdenkliche Hilfe anbieten. Wie Sie sehen, bedeutet sie meinem Sohn sehr viel. Ich kann mir keine andere Frau vorstellen, die ihn so glücklich machen könnte.«
    Monk stellte fest, dass er an der Aufrichtigkeit des anderen Mannes nicht den geringsten Zweifel hegte, was die emotionale Last, die auf ihm ruhte, umso schwerer machte. Warum war Miriam Gardiner ohne ein Wort der Erklärung aus diesem Haus geflohen? War der Auslöser ein plötzliches Ereignis gewesen oder eine Ansammlung kleiner Dinge, die in ihrer Gesamtheit zu viel für sie waren? Was konnte es gewesen sein, dass sie nicht einmal diesen Menschen, die sie liebten, eine Erklärung gegeben hatte?
    Und wo steckte der Kutscher James Treadwell?
    Stourbridge sah Monk erwartungsvoll an. Aber der wusste nicht recht, wo er beginnen sollte. Harry Stourbridge war ganz anders, als er erwartet hatte, und seine Gefühle gingen ihm unerwartet nah.
    »Was wissen Sie über Mrs. Gardiner?«, fragte er schroffer, als er beabsichtigt hatte. Mitleid würde weder Lucius noch seinem Vater weiterhelfen. Monk war hier, um das Problem anzugehen, nicht um sich irgendwelchen Gefühlen hinzugeben.
    »Sie meinen, über ihre Familie?« Stourbridge verstand sofort, woran er dachte. »Sie hat nie von ihren Eltern gesprochen. Ich nehme an, es waren ziemlich einfache Leute. Ich glaube, sie starben, als Miriam noch jung war. Das Thema machte sie offensichtlich immer ein wenig traurig, und keiner von uns wollte weiter in sie dringen.«
    »Jemand muss doch für sie gesorgt haben, als sie aufwuchs«, hakte Monk nach. Er hatte keine Ahnung, ob diese Fragen von Belang waren, aber es gab so wenige Spuren, die er verfolgen konnte.
    »Natürlich«, stimmte Stourbridge zu und nahm endlich wieder Platz. »Eine gewisse Mrs. Andersen hat sie zu sich genommen und sie mit großer Freundlichkeit behandelt. Miriam hat sie immer noch regelmäßig besucht. In Mrs. Andersons Haus hat sie übrigens auch Mr. Gardiner kennen gelernt; sie war damals etwa siebzehn und hat ihn zwei Jahre später geheiratet. Er war erheblich älter als sie.« Er schlug die Beine übereinander und beobachtete Monk voller Sorge. »Natürlich habe ich selbst Erkundigungen eingezogen. Lucius ist mein einziger Sohn, und sein Glück liegt mir sehr am Herzen. Aber ich habe nichts herausgefunden, was die gegenwärtigen Ereignisse erklären könnte. Walter Gardiner war ein stiller, zurückhaltender Mann, der erst relativ spät heiratete, mit fast vierzig, und einen exzellenten Ruf genoss. Er war eher schüchtern und ein wenig unbeholfen in Gesellschaft von Frauen. Er arbeitete sehr hart in seinem Laden – wo er übrigens Bücher verkaufte – und hatte bescheidenen geschäftlichen Erfolg. Miriam ist gut versorgt. Nach allem, was man hört, war sie sehr glücklich mit ihm. Ich habe niemanden ein schlechtes Wort über die beiden reden hören.«
    »Hatten sie Kinder?«, fragte Monk neugierig.
    Ein Schatten legte sich über Stourbridges Augen. »Nein. Bedauerlicherweise nicht. Das ist ein Segen, der nicht jeder Ehe vergönnt ist.« Er holte tief Luft, bevor er weiter sprach. »Meine Frau und ich haben nur das eine Kind.« Der Schmerz in seinem Gesicht war für Monk unübersehbar. Kinder waren ein Thema, über das er selbst wenig nachgedacht hatte. Er besaß weder einen Titel noch Grundbesitz, die es zu vererben galt, und er empfand es nicht als Mangel, keine Familie zu haben. Andererseits war Hester aber auch keine gewöhnliche Frau. Er
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