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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad
Autoren: Stephen King
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und ließ sich hinter das Lenkrad fallen. Der Motor jaulte schrill auf. Es war nicht das Geräusch einer von Menschenhand gemachten Maschine. Eine lange Fahne aus orangefarbenem Feuer schoß aus dem Auspuff. Die Hecklichter flammten auf, und sie waren nicht rotes Glas, sondern widerwärtige kleine Augen – die Augen grausamer Kobolde.
    Polly Chalmers schrie auf und preßte ihr Gesicht an Alans Schulter, aber Alan konnte sich nicht abwenden. Alan war dazu verurteilt, zu sehen und sich zeit seines Lebens an das zu erinnern, was er sah – ebenso, wie er sich an die helleren Wunder dieses Abends erinnern sollte: die Papierschlange, die ein paar Augenblicke lang real gewesen war; die Papierblumen, die sich in einen Strauß aus Licht und einen Quell der Kraft verwandelt hatten.
    Die drei Frontscheinwerfer erstrahlten. Der Tucker setzte auf die Straße zurück, und der Asphalt unter seinen Reifen zerschmolz zu brodelnder Schmiere. Dann kreischte er in eine Kehrtwendung nach rechts, und obwohl er Alans Wagen nicht berührte, wurde der Kombi ein ganzes Stück zurückgeschleudert, als wäre er von einem starken Magneten abgestoßen worden. Die Fronthaube des Talisman überzog sich mit einer nebelartigen weißen Glut, und unter dieser Glut schien er sich zu wandeln und seine Form zu ändern.
    Der Wagen gellte auf, hügelabwärts gerichtet auf den kochenden Hexenkessel, der einmal das Gebäude der Stadtverwaltung gewesen war, auf das Chaos aus zerschmetterten Streifenwagen und Transportern und auf den reißenden Fluß, den keine Brücke mehr überspannte. Der Motor kam auf irre Touren, Seelen heulten in dissonantem Wahnsinn, und das helle, neblige Glühen begann, sich nach hinten auszudehnen und den Wagen einzuhüllen.
    Dann rollte der Tucker an.
    Er wurde schneller, als er hügelabwärts fuhr, und auch die Veränderungen gingen schneller vor sich. Der Wagen schmolz, formte sich um. Das Dach wich nach hinten zurück, aus den funkelnden Radnaben wuchsen Speichen, die Räder wurden höher und schmaler. Aus den Überresten des Kühlergrills schälte sich eine Gestalt heraus. Es war ein schwarzes Pferd mit Augen, so rot wie die von Mr. Gaunt, ein Pferd, eingehüllt in ein milchiges Laken aus Helligkeit, ein Pferd, dessen Hufe Funken aus dem Pflaster schlugen und tiefe, rauchende Abdrücke auf der Straße hinterließen.
    Der Talisman war zu einer offenen Kutsche geworden mit einem buckligen Zwerg auf dem Bock. Die Stiefel des Zwerges waren auf das Schmutzbrett gestützt, und die nach oben gebogenen Spitzen dieser Stiefel schienen Flammen zu speien.
    Doch die Veränderungen gingen weiter. Als die glühende Kutsche auf das untere Ende der Main Street zujagte, begannen die Seiten zu wachsen; ein hölzernes Dach mit überstehenden Traufen formte sich aus der nährenden proteischen Hülle. Ein Fenster erschien. Die Speichen der Räder versprühten gespenstische Farbblitze, als die Räder – und die Hufe des schwarzen Pferdes – vom Pflaster abhoben.
    Der Talisman war zur Kutsche geworden; jetzt wurde die Kutsche zu einem Karren von der Art, auf dem vor vielleicht hundert Jahren Wunderärzte durchs Land reisten und ihre Schau abzogen. An der Seite erschien eine Schrift – Alan konnte sie gerade noch erkennen.
    CAVEAT EMPTOR
    hieß es da.
    Hoch in der Luft und immer noch steigend fuhr der Karren durch die aus den Ruinen des Gebäudes der Stadtverwaltung lodernden Flammen. Die Hufe des schwarzen Pferdes galoppierten auf einer unsichtbaren Straße und ließen nach wie vor leuchtend blaue und orangefarbene Funken aufstieben. Über dem Castle Stream stieg er noch höher, ein glühender Kasten am Himmel, und passierte die eingestürzte Brücke, die wie das Skelett eines Dinosauriers in der reißenden Strömung lag.
    Dann legte sich ein Rauchschwaden von der brennenden Masse des Gebäudes der Stadtverwaltung über die Main Street, und als der Rauch abgezogen war, waren Leland Gaunt und sein höllisches Gefährt verschwunden.

18
     
    Alan führte Polly zu dem Streifenwagen, der Norris und Seaton vom Gebäude der Stadtverwaltung hergebracht hatte. Norris saß nach wie vor im Fenster und klammerte sich an die Blaulichthalterung, ohne abzustürzen.
    Alan legte die Hände um Norris’ Bauch (nicht, daß Norris, der gebaut war wie ein Zelthering, viel Bauch gehabt hätte) und half ihm beim Absteigen.
    »Norris?«
    »Was ist, Alan?« Norris weinte.
    »Von jetzt an können Sie sich in der Toilette umziehen, wann immer Sie wollen«, sagte Alan.
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