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In Den Armen Der Finsternis

Titel: In Den Armen Der Finsternis
Autoren: Marjorie M. Liu
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nutzen konnte.«
    »Ah«, hauchte ich, als ich mich an die schreckliche Gier erinnerte, die ich in seinen Augen gesehen hatte. »Danach hast du dich verzehrt.«
    Jack senkte den Blick und sah auf seine Hände. »Es gibt viele
schreckliche Dinge, die ich dir nicht erzählt habe. Und ich weiß auch, dass es frustrierend gewesen sein muss … das, was du meine Rätsel nanntest. Aber falls es dir hilft, ich liebe dich.« Er schloss die Augen »Und ich liebe auch deine Mutter.«
    Ich liebe dich auch, dachte ich, unfähig, die Worte laut auszusprechen. Ich fürchtete mich ebenso sehr vor ihnen, wie ich mich nach ihnen sehnte. Ich zwang mich dazu, Luft zu holen. »Hast du etwas mit meiner Mutter angestellt, was sie an mich weitergegeben hat? Hast du uns verändert ?«
    »Das weiß ich nicht«, flüsterte Jack und erwiderte meinen Blick gequält. »Aber was deine Großmutter und ich geteilt haben, was Jeannie und ich taten …«
    Er unterbrach sich. »Ich bereue nichts«, fuhr er fort. »Überhaupt nichts.«
    »Aber du hast selbst gesagt, dass du bereuen solltest.«
    »Es gibt eben Regeln. Zum Beispiel Regeln, die verhindern, dass ein Lehrer das Vertrauen seines Schülers missbraucht. Und genau das habe ich getan.«
    »Meine Großmutter war keine Lolita.«
    »Sie war ein richtiger Feuersturm«, erwiderte er leise. »Jeannie.«
    Das war die Art, wie Jack es formuliert hat. Etwas in mir war von der Intimität in seiner Stimme, mit der er den Namen meiner Großmutter aussprach, peinlich berührt. Aber gleichzeitig sehnte ich mich auch danach. Ich sehnte mich danach zu erfahren, dass man sich um sie gekümmert hatte. Ich wollte hören, dass meine Mutter ebenfalls diese Zuneigung erfahren hatte, selbst wenn es nur aus weiter Ferne war.
    Und ich. Auch ich wünschte mir diese Liebe. Ich wünschte mir einen Großvater.
    Mit den Fingern streifte ich Jacks Schulter. Er hob die Hand
und legte sie auf meine. Das war eine menschliche Hand, sie war blass, und die Haut war trocken. An ihm war nichts Fremdartiges.
    Nichts außer dem Herzen, hatte meine Mutter einmal gesagt, als ich noch sehr jung war. Körper zerbrechen, wenn das Herz zerbricht. Selbst ein Hund kann an Trauer sterben.
    Also sei stark, hatte sie weitergesprochen. Trauere nicht um mich .
    Hätte sie noch gelebt, ich hätte ihr ins Gesicht gesagt, dass das Blödsinn war. Trauere nicht um mich . Als wäre das eine Schwäche! Vermutlich hatte sie genauso um ihre eigene Mutter getrauert, wie ich immer noch um sie trauerte. Nur hatte sie eben niemals darüber gesprochen.
    Aber Jack trauerte. Ich vermutete, dass er um sie trauern würde, solange er lebte.
    »Warum bist du so anders?«, erkundigte ich mich, als ich an Mr. Koenig in seinen gestohlenen Körpern denken musste. Engel und Mensch, göttlich und grauenvoll - in all diesen Inkarnationen war er innerlich verrottet, ohne Fähigkeit zu Mitgefühl oder Erbarmen.
    Der alte Mann hob seine faltigen Hände. »Siehst du, wie durchlässig das Fleisch ist? Wie es vom Leben zum Tod übergeht? Ich bin immer und immer wieder neu geboren worden. Ich bin in den Schoß von menschlichen Müttern gefallen, von Abertausenden Müttern, guten Müttern und schlechten Müttern, von Armut zu Königtum zu Göttlichkeit, und habe das alles ohne meine Erinnerungen getan. Ich habe das mit all dem getan, was ich bin, und gleichzeitig verborgen vor mir selbst. Denn wenn du als ein Mensch leben willst, musst du wirklich leben. Gib dich der Erfahrung bedingungslos hin, damit du so existieren kannst, wie es beabsichtigt war. Sei im Augenblick,
sei nur du selbst, geformt von - und gebildet durch - Erfahrungen, die so hart sind, wie die Sterblichkeit es eben zulässt. Damit du dich, wenn du dich erinnerst, wer du wirklich bist, auch an deine Demut erinnern kannst. Die Demut, das Mitgefühl und … die Liebe.«
    Er ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf. »Er, der sich selbst Mr. Koenig nannte, mein Bruder, er konnte das niemals verstehen. Er hat nie verstanden, dass ein wahrer Meister des Göttlichen Organischen zu dem werden musste, was wir schufen, und zwar in jeder Hinsicht. Wir durften es nicht einfach nur nachäffen wie Geister in Puppen, sondern wir mussten lernen und dadurch größer werden.« Verbittert verzog er den Mund. »Viele denken immer noch so. Sie denken, man könnte einfach nur nehmen - und das sei dann alles.«
    Und sie werden die Nächsten sein, die hierherkommen, dachte ich grimmig. Ich kam nicht dazu, weiter darüber
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