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In deinem Schatten

In deinem Schatten

Titel: In deinem Schatten
Autoren: Barbara Hambly
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wenn ihr das zu Ohren käme.
    Es war kurz nach zwei, und das Café begann sich langsam zu leeren, wie immer um diese Zeit. Die Büroangestellten und Verkäufer aus der Umgebung eilten wieder zurück zur Arbeit und überließen die Tische und die abgewetzten, altmodischen Stühle aus kunstvoll gebogenem Holz den Ballettschülern, den Anwälten aus der Gegend und ein paar Leuten, die in der Lexington Avenue einen Einkaufsbummel gemacht hatten.
    “Darin habe ich jede Menge Erfahrung”, fügte er mit einem zerknirschten Lächeln hinzu.
    “Und ich habe jede Menge Erfahrung darin, dass sich Leute über Tarot lustig machen. Entweder man glaubt daran, oder man tut es nicht. Es besteht für dich keinerlei Verpflichtung, daran zu glauben.” Maddie breitete die Hände aus. “Du hast gestern nicht …” Sie zögerte wieder, sah ihm in seine braunen Augen und fragte sich:
War es derselbe Mann?
    War es dieselbe Stimme?
    Sein Geruch jedenfalls hatte keine Ähnlichkeit mit dem furchtbaren Gestank nach verschwitzter Wolle und Aftershave.
    Würde er ihr die Wahrheit sagen, wenn sie ihn fragte?
    “Du hast gestern Abend sonst niemanden im Haus gehört, oder?” Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, zuckte sie innerlich zusammen und wünschte, sie könnte sie zurücknehmen.
    “Du etwa?”
    Er war es.
    Wirklich?
    Bei ihren Worten war er zurückgewichen und wirkte plötzlich misstrauisch. Maddie schüttelte den Kopf. “Tessa hat mir erzählt, dass du derzeit dort schläfst.”
    “Psst.” Er zog den Kopf ein und legte sich theatralisch einen Finger auf die Lippen. “Wenn das die Hausverwaltung hört, ist mein Mietverhältnis beendet. Und dann wäre ich
wirklich
in Schwierigkeiten. Ich hoffe, dass es nur vorübergehend ist – bis ich genug gespart habe, damit ich mir eine Wohnung leisten kann. Allerdings muss man ganz schön viel sparen, um sich in dieser Stadt eine Bleibe leisten zu können. Neben meinem Job als Ballettpianist gebe ich in meinem Proberaum Klavierunterricht. Wenn ich diesen Raum auch noch verliere, bin ich demnächst wieder in Tulsa und stelle auf der Baustelle Gerüste auf.”
    Maddie riss erstaunt die Augen auf. “Du bist also eigentlich Bauarbeiter?”
    “Ich
war
Bauarbeiter”, sagte Phil. Dann betrachtete er seine Kaffeetasse und drehte sie, bis der Henkel parallel zur Tischkante stand. “Besser gesagt, ich war eigentlich immer Musiker. Aber solange ich zu Hause gelebt habe, musste ich auf dem Bau arbeiten. Mein Dad hätte mir das College bezahlt, wenn ich Betriebswirtschaft oder etwas Technisches studieren würde – er selbst ist Bauunternehmer –, aber Musik?”
    Er zuckte mit den Schultern, sah wieder auf und ihr in die Augen. “Das ist einer der Gründe, warum meine Laune gestern Abend nicht die allerbeste war. Es war mein Geburtstag – ein runder Geburtstag mit einer Drei und einer Null. Ihn in einem leeren Haus und auf dem Fußboden schlafend zu verbringen war nicht unbedingt das, was ich mir für diesen Tag vorgestellt hatte.”
    Maddie betrachtete seine Hände. Es waren kräftige Hände, denen man ansah, dass er als Gerüstbauer – dem miesesten Job im gesamten Baugewerbe – schwere Stahlrohre geschleppt hatte. Seine Finger allerdings waren schlank und feingliedrig. Musikerhände. Bei Tageslicht wirkte er trotz der Fältchen in den Augenwinkeln und der wenigen silbernen Strähnen im dichten, dunklen Haar jünger als gestern Abend.
    Sie überlegte, wann er sich wohl die Nase gebrochen hatte – die Stelle war zwar gut verheilt, aber immer noch sichtbar –, und wo er sich die kleine Narbe unter seinem linken Auge zugezogen haben mochte. Und sie fragte sich, was er sonst noch auf sich genommen hatte, um nach New York gehen zu können, und welche Art von Musik er in diesem Proberaum im sechsten Stock komponierte.
    “Ich habe ihm die zwei CDs geschickt, die ich aufgenommen habe”, sagte Phil. Seine Stimme war leiser als vorhin. “Als ich das letzte Mal zu Hause war, habe ich sie in einer Schublade gefunden. Sie waren immer noch in Folie eingeschweißt. Meine Stiefmutter fragt mich ständig, warum ich nicht die Art von Musik komponiere, die normalen Leuten gefällt.” Er hielt inne und sah sie entschuldigend an. “Tut mir leid. Du bist kein Fan klassischer Musik, oder?”
    “Hach, weißt du”, sagte Maddie mit gespielter Naivität und stützte das Kinn auf ihre gefalteten Hände. “Ich habe jahrelang versucht, zu Mozarts Kleiner Nachtmusik eine Bauchtanz-Nummer einzustudieren. Aber es
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