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In deinem Schatten

In deinem Schatten

Titel: In deinem Schatten
Autoren: Barbara Hambly
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können.
    Maddie war am Ende der Treppe angelangt, ging weiter durch den kleinen, nur schwach beleuchteten Korridor bis zu der Tür, auf der “The Dance Loft” stand, und zog Tessas zweiten – ebenfalls oft nachgemachten – Schlüssel aus der Manteltasche. In den 23 Jahren, die seit ihrer ersten Ballettstunde als Fünfjährige vergangen waren, hatte Maddie schon unzählige Tanzschulen in Baton Rouge, in New Orleans und New York besucht. Überall sah der Empfangsbereich genau gleich aus: ein abgenutzter Teppich, Wandvertäfelungen aus Sperrholz, Poster von den Tanzlehrern, reihenweise schwarz gerahmte Fotos von acht- bis zehnjährigen kleinen Ballerinen, die schwerelos über die Bühne schwebten, und jede Menge Porträts mit Fotos und Autogrammen berühmter Tänzerinnen und Tänzer. Maddie musste unwillkürlich lächeln, als sie durch die Glastür in den kleinen Raum guckte und den Schlüssel in das Schloss steckte …
    Doch die Tür war nicht abgesperrt.
    Verdammt!
Maddie war entsetzt.
Um Himmels willen, Tessa, wenn du hier allein bist, musst du doch hinter dir abschließen!
Hast du in deinem Zuhause mit den zwei Alkoholikern als Eltern etwa nicht gelernt, auf der Hut zu sein? Und das hier ist die Großstadt!
    Tessas Sporttasche lag in einer Ecke des großen Ballettsaals, wo die Leuchtstoffröhren sechs Meter über dem rissigen Parkettboden flackerten. Maddie sah sich von der Türschwelle aus im Saal um. Die Spiegel reflektierten ihr eigenes Spiegelbild – mittelgroß und immer noch schlank, obwohl sie einige Kilo mehr wog als zu ihren spindeldürren Ballerina-Zeiten. Bauchtänzerinnen waren zwar nicht so angesehen wie Balletttänzerinnen, ging ihr durch den Kopf, doch wenigstens mussten sie sich nicht zu Tode hungern, um ein Engagement zu bekommen. Ihr hellbraunes Haar fiel ihr in vielen kleinen Zöpfen bist fast über die Taille, wobei die glitzernden Haarspangen einen ziemlichen Kontrast zu ihrem graugrünen Dufflecoat und den Jeans abgaben.
    Keine Spur von Tessa.
    Vermutlich auf der Toilette, dachte Maddie. Sie ging zu der schwarzen Leinentasche in der Ecke: rosa, mit Klebeband geflickte Spitzenschuhe, alte Legwarmer mit Löchern und ein Paar Jeans, die über der Ballettstange baumelten. Der Anblick dieser Habseligkeiten erinnerte Maddie daran, wie Tessa im Juli das erste Mal ganz schüchtern ins Dance Loft gekommen war, als würde sie damit rechnen, sofort wieder hinausgeworfen zu werden, wenn sie in diesen heiligen Hallen auch nur zu atmen wagte. “Ich bin Theresa Lopez”, hatte sie leise gesagt. “Gibt es hier so etwas Ähnliches wie ein Schwarzes Brett, wo ich einen Zettel aufhängen kann? Ich bin nämlich auf der Suche nach jemandem, der eine Mitbewohnerin braucht.”
    Maddie hatte ihr das Schwarze Brett gezeigt, auf dem bereits unzählige Annoncen mit ähnlichen Anfragen hingen, und ihr – da es früh am Vormittag und Maddie gerade mit dem Unterricht fertig war – eine Tasse Kaffee gebracht. Dann hatten sie sich auf das ramponierte alte Sofa im Empfangsraum gesetzt und sich unterhalten.
    Obwohl ein Altersunterschied von zehn Jahren zwischen ihnen lag, hatte Maddie sie sofort gemocht. Vielleicht deshalb, weil ihre Reaktion auf Maddies Bauchtanz-Unterricht ein spontanes “Hey, wie cool ist
das
denn?!” anstatt eines herablassenden “Oh … so wie diese Frauen in den Bars?” gewesen war. Vielleicht auch wegen des wissenden Ausdrucks in diesen großen, braunen Augen: Maddie hatte instinktiv erkannt, dass Theresa Lopez derselben Art von Hölle entflohen war, die auch sie selbst bis vor Kurzem durchlitten hatte. Obwohl bei Tessa die Eltern der Feind gewesen waren, wogegen es in Maddies Fall …
    Sandy.
    Maddie zuckte immer noch jedes Mal zusammen, wenn sie an ihren Ex-Mann dachte.
    Und genau dieses Zusammenzucken riss sie aus ihren Gedanken. Sie stellte fest, dass gute fünf Minuten vergangen waren.
    “Tessa?” Im Korridor vor dem Empfangsraum des Dance Loft war es dunkel. Der Weg zu den Toiletten kam Maddie meilenweit vor. Als sie es schließlich doch bis dorthin geschafft und die Tür einen Spalt aufgeschoben hatte, sah sie, dass es drinnen ebenfalls völlig finster war.
    Tessa war nicht da. War auch nicht da gewesen – zumindest nicht, seit Maddie hier war.
    Maddie stand einige Minuten im dunklen Korridor und horchte in die Stille, die im ganzen Haus herrschte.
    Keine absolute Stille. Eine Stille, die atmete und lauschte.
    Tja, du Dummkopf, sagte sie sich rasch.
Natürlich kann es nicht
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