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Imperium

Imperium

Titel: Imperium
Autoren: Christian Kracht
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ernährt (kann Slütter ihm ansehen, daß er lügt? Nein, das ist ganz ausgeschlossen). Kriechend und mit nassem, ausgebleichtem Bart liegt er dort ausgestreckt im Sandschlamm, seine Beine sind von den gelblichschwarzen Flecken des Aussatzes überzogen, als habe er sich wiederholt gestoßen.
    Slütter beeilt sich, ihm hochzuhelfen, und erschrickt ob des verschwindend geringen Gewichts des Mannes, ihm ist, als halte er ein zerbrechliches kleines Kind in den Armen oder einen sterbenden Greis, dessen Haut sich ledern und brüchig anfühlt, wie bei einer Echse. Er bemerkt, daß Engelhardts Ohren weit vom Schädel abstehen, auch sie so fragil und transparent, als seien sie aus Papier, und es übermannt ihn ein starkes Gefühl des Mitleids. Er legt stützend den Arm um Engelhardts Schultern, begleitet ihn zurück zu seinem Haus, an den säumenden Palmenrand, und vergißt dabei, daß er gekommen ist, um ihn zu erschießen.
    Im Inneren der Behausung herrscht schummriges Halbdunkel; Sonnenlicht, das in dünnen Strahlen aus Wandritzen sticht, saust kreuz und quer durch die Zimmer. Es stinkt nach süßlich verwesenden Früchten. Slütter, dessen Augen sich nur langsam daran gewöhnen wollen, sieht den jungen Eingeborenen, der im Bücherzimmer lächelnd auf einem grob gezimmerten Stuhl sitzt, nicht sofort. Es ist Makeli, der mit der Schere spielt. Woher kommen nur diese ganzen Fliegen? Hunderte sind es. Slütter schickt sich an, die zugezogenen Fensterläden aufzustoßen, während Engelhardt sich, Unverständliches murmelnd, an einem Bücherregal zu schaffen macht, als suche er etwas. Slütter schenkt aus einem Tonkrug ein Glas Wasser ein, riecht daran, verzieht das Gesicht und stellt es wieder hin; das Wasser verströmt einen fauligen, modrigen Geruch.
    Sich am Bärte ziehend, beginnt Engelhardt zu klagen, daß keine Menschenseele mehr in den Kokosplantagen arbeite, diese faulen Simpel seien alle in ihre Dörfer zurückgekehrt, der ungezogene Tolaihäuptling habe wohl angeordnet, daß ihm der Dienst zu verweigern sei, nach allem, was er für sie getan habe, sei dies nun der Dank, allein Jung Makeli hier sei ihm geblieben, obschon er ja gar nicht mehr zurück in sein Dorf könne, da er ein richtiger Deutscher geworden sei, der fließend Deutsch spreche, man wolle ihn dort nicht mehr, wozu auch, den zweiten Faust habe er ihm letztens vorgelesen, Poe und auch das erschütternde Ende von Ibsens Gespenstern. Engelhardt bricht in Tränen aus, er beginnt zu zucken, schließlich schüttelt es ihn am ganzen Körper. Makeli muß grinsen und legt die Hände vor den Mund. Slütter sieht, daß dem Jungen ein Mittel- und ein Zeigefinger fehlen.
    Der Kapitän, der eine vage, aber doch ganz und gar unmittelbare Bedrohung im Räume spürt, schlägt vor, sich einstweilen die Plantagen anzusehen, worauf Engelhardt sofort aufhört zu weinen und ausruft, dies sei eine ausgezeichnete Idee, Makeli und Slütter sollten schon vorgehen, die Natur würde draußen zu ihnen sprechen, er komme dann rasch nach, er müsse nur noch schnell etwas essen, da er sich so unendlich schwach fühle. Slütter und der Eingeborenenjunge treten hinaus in das blendende Sonnenlicht.
    Engelhardt will sich eigentlich seinem Gast erklären, will ihm alles nun Erkannte übertragen, wirklich alles, jetzt ist der passende Augenblick aber vorbeigerast. So murmelt er also weiter zu sich selbst, in seiner Behausung auf und ab schreitend: Auch Nietzsche habe gegen Ende, nach dem Zusammenbruch in Turin, seine eigenen Ausscheidungen gegessen, es sei der große Kreis, das Möbiusband, das Feuerrad, die Kalachakra - nur habe Nietzsche in seiner Umnachtung die Sache nicht zu Ende denken können, er habe niemals diesen Jahre andauernden Hunger erleben müssen; Engelhardt sei hier unter unglücklichen Kannibalen, die sich fortentwickelt hätten, weg von ihrem natürlichen, gottgegebenen Instinkt, den ihnen die Missionare mit ihrem Gequatsche ausgeredet hätten, dabei sei alles so denkbar einfach, nicht die Kokosnuß sei die eigentliche Nahrung des Menschen, sondern der Mensch selbst sei es. Der ursprüngliche Mensch des Goldenen Zeitalters ernährte sich von anderen Menschen, ergo der gottgleich Werdende, der nach Elysion Zurückkehrende von sich selbst: Godeater. Devourer qf God. Und Engelhardt greift zur Kokosschale, darin er seinen Daumen verwahrt hat, entfernt sorgfältig das Salz von dem abgetrennten Stück und beißt hinein, den Knochen mit den Zähnen zerknackend.
    Die Wipfel der
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